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tour_tagebuch

06. April 2013, Torgau/Kulturbastion

Ein Traum aus Apfel, Sahne und Zimt (272)


Im Kaffeehaus Gräfe, am Johannisplatz zu Jena, lässt man sich gerne nieder. Außerdem schmeckt’s Frühstück hier weitaus besser, als im Hotel. Einerseits, andererseits schlägt die Uhr bereits zur Mittagsstunde und wer will sich da lange vorher für harte, kalte Eier an den Restbeständen des Buffets abhetzen? Hier rennt nur eine rum, Kellnerin Sabine. Wie eine flinke Streifenmaus von Tisch zu Tisch, runter zur Theke, rauf zu den Gästen. Allein beim Zusehen gerät man völlig außer Atem und bekommt Seitenstechen. Nach Verzehr des ersten Ganges ordert Doktor Makarios Petit four in der Mehrzahl. Unter stoischer Kaffeezufuhr steht dem Wachwerden, nebst langsam anschwellender Teilnahme am geistigen Leben, bald nichts mehr im Wege. Die Fahrtüchtigkeit dürfte somit gegeben sein; es geht über Leipzig vorwärts nach Torgau. Beschauliche Stadt, eine geballte Bastion an Kultur darin. Genau dort, in der Kulturbastion, soll heute konzertiert werden.

 

Immer war die Gastfreundschaft unter Torgau-Konzerten ein Genuss; bisweilen gastierten die Doctors bereits einige Male im Brückenkopf. Auch in der Bastion wird lecker aufgefahren, was Wanderer, Reisende, stets hungrige wie durstige Musiker gerne benötigen, um zu späteren Stunden frisch ans Werk gehen zu können. Man sollte das nicht unterschätzen – je schöner die Umstände, desto glücklicher der Unterhaltungskünstler. Es muss ja auch nicht immer ein ganzes Schwein am Spieß sein :) Nun denn. Auch die Technik passt; der Soundcheck spielt sich quasi wie von selbst. Nichts wie zurück ins Backstage; erste Pratajev-Forscher werden geherzt. Brotnowaljow Numski Guinnessoff, sonst um diese Tageszeit im Wirtsleutejob des Wittenberger Irish Harp Pub anzutreffen, hat sich extra frei genommen. Schwarzbrennermeister Gurt Kaktus präsentiert neuste Erzeugnisse aus der Schnapsforschung. „Nacktschnecke“ und „Miloproschenskojer Schnapsteeschnaps“. Allenthalben werden die edlen Tropfen verkostet.

 

Sehr gute Jahrgänge; in der önologischen Weinsprache stünden jetzt Bezeichnungen wie üppig, reich, weich oder gleich ganze Sätze wie „Beim Abgang sehr kuhsattelig“ im Fokus des Lobes. Brotnowaljow Numski Guinnessoff und Doktor Pichelstein stoßen an. Leckere Rouladen verlangen sanfte Nachspülungen. Zuletzt staunt der schnellste Erlenholzgitarrist nicht schlecht; als hätte sich die zuletzt in Leipzig grassierende Becherovka-Knappheit im Kaufland an der Dresdener Straße herumgesprochen. Boris Brutalowitsch und Gattin überreichen doch tatsächlich eine Karlsbader Flasche. Ist denn schon wieder Väterchen Frost?

 

Schließlich erscheint sie am Horizont der Bastion, die Torte zum 10-jährigen Bestehen der Russian Doctors. Ein Traum aus Apfel, Sahne und Zimt als weiteres Produkt aus dem Hause Gurt Kaktus. Doch dazu später; erst einmal will ein Konzert gespielt werden. Um 22:30 Uhr ist’s so weit. Selbst mit dem Taxi aus Wittenberg und, bemerkenswert, aus Wismar reiste man zu diesem heiligen Zwecke an; heute ist die Fata Morgana des gestrigen Abends also tatsächlich da.

 

 

Gleich zu Anfang jubelt sich der kleine Saal an der Schnapsbar kräftig durch. Die pfefferminzlastige Getränkeversorgung der Doctoren übernimmt ein gestandener Blueser gleich aus dem eigenen Flachmann. In immer kürzer werdenden Abständen taucht die Flasche aus Stahl, zum Zwecke der Entleerung, vor den Mikros auf - der Inspirations-Spiritus zeigt Wirkung. Doktor Makarios und Doktor Pichelstein haben großen Spaß, feine Pratajev-Anekdoten funken und irrlichtern durch die Runden. Die Gitarre ist mal wieder kaum zu bändigen. Manche im Publikum lächeln darunter fein und wissend, andere rasen, toben oder fallen bereits in sich zusammen wie ein Soufflé. Dann geht’s in die Pause, an die Schnapsbar, auf Ledersofas. Doktor Pichelstein erfährt eine Menge übers harte Los der Punks in Torgau und widmet sich einer Gruppe von Ausbildungsschülern, Sektion: Steuerrecht. Die haben es auch nicht leicht, wenn man ihnen die Schnapsfasche reicht.

 

 

Weiter geht’s im Pratajev-Crashkurs. Das Intro der letzten Feldmänner-Tour läuft, russisches Landleben entfaltet sich vollends. Da es den Russian Doctors möglich ist, aus einem Liedtresor von geschätzt 80 bis 90 Titeln auszuwählen, zählt man mal das ein oder andere Giftschrank-Demo hinzu, krempelt sich das geplante Set zusehends um, darf natürlich der „Raucher von Bolwerkow“ nicht fehlen, auch nicht „Gelber Schnaps“ oder „Frauen die wie Katzen kreischen“. Mittlerweile ist der Zugabeblock eingeleitet worden, heftige Rumpftänze sind die Folge, finden ihre Meister in der Bluesfraktion. Doktor Pichelstein spielt weiterhin, als wäre er vor einem Feuer auf der Flucht und so brennt der Schnaps in den Kehlen, tost das Publikum, fordert das großartige, intensive Konzert seinen Tribut. Die erste Stahlsaite reißt, eine Weltpremiere folgt: Es ist die A-Cappella-Version der Schnapsbar. Dann nichts wie runter von der Bühne. Zwischen Tortenverkostung und Centralhotel vergehen weitere Stunden - in der Punkrockhauptstadt Torgau wird, was im Backstage zu beweisen ist, dafür immer auf Teller und Gabeln verzichtet. Es tropft die Sahne, der Nacktschneckenschnaps hält fit. Was für ein Abend.

 

05. April 2013, Jena/Musikkneipe Alster

Betreuter Ausschank mit Gurke (271)


Der Frost frisst die Straßen, möchte man meinen. Großen Appetit verspürte er zuletzt in Leipzig und schlug die Zähne kräftig in die Betonbetten hinein. Manche Löcher sind derart groß, da ließe sich was mit Fischen und Anglern machen. Doktor Pichelstein sieht sich also gezwungen mit dem Tourauto Slalom zu fahren. Ein Unterfangen von wagnerhaftiger Tragik, im klassischen Sinne. Während draußen fieskalter Schneegriesel am demolierten Selbstbewusstsein der Stadtbewohner nagt. Bestimmt werden zu dieser Jahreszeit gerade Bücher mit Titeln wie „Der Glamour des Verfalls“ oder „Als ich das Ponyfellsofa nie wieder verlassen wollte“ in der Szene geschrieben. Doctor Makarios hält hingegen die Fahne des Optimisten hoch. Zwei Wetterberichte werden seit Wochen täglich zu Rate gezogen. Der eine verspricht stets gar nichts Gutes, der andere weckt Hoffnungen auf Sonne, Biergarten und Grillbesteck in Händen. „Ich nehme jetzt immer die Mitte, das passt dann meistens“, so der Sangesdoctor zum Gitarristen.

 

Auch nach Ankunft in Jena, dasselbe Bild: Slalom im Audi-Super-G, deprimierte Einwohner. Doch das muss nicht mehr so bleiben. Verschieben sich die Frühblüher bisweilen noch ein wenig nach hinten; The Russian Doctors sind in der Stadt. Die Rettung, die Heilung geruht zu scheinen. Mögen körpereigene Morphine darunter Sonnen in manches Herzelein tragen.

 

Nach zähem Eincheck ins IBIS (umdisponieren auf Raucherzimmer - ja, die gibt es tatsächlich noch) werden Koffer und Gitarren in die Krautgasse 22 verlagert. Schwupps gibt’s das erste Rosenschwarz aus der Flasche, erklären sich 50 anwesende Prozente des Majorlabels fortan bereit, täglich, weil aus beruflichen Gründen, Kinderlieder anstimmen zu wollen. Da können Doctoren nur zustimmen, während der Alster-Chefwirt mit den Tücken der Knopfvielfalt am Mischpult kämpft und zunächst kurzfristig als Sieger von der Bühne geht.

 

Nach dem Soundcheck heißt’s: Mal schauen, wer alles schon da ist. Noch wird draußen geraucht, also auf zu Pratajevs Jeaner Forscherfreunden. Frau Polenz sei im Besonderen genannt, dann die lieben Menschen aus der JG. Lothar König lässt Grüße übermitteln. Nichts wie an die Schnapsbar: ein Toast, ein Hoch, eine Solibekundung. So geht das in Russland. Und natürlich auch in Jena, im Alster. Die Treppenstufen knarren, eine Fata Morgana namens Peter aus Wismar geht hinauf und kommt nie mehr wieder, wird verschlungen im Gewühl. Denn proppevoll ist’s mittlerweile; erste Gurken werden den Doctoren nach Verspeisen feinster Italo-Küchenleckereien gereicht.

 

 

Eine Gurke ist ein Glas Wodka mit zwei Gurkenscheiben dran, das wollen wir nicht nur am Rande erwähnen, denn in den folgenden Stunden gurkt es ungemein. Man nennt es „Betreutes Trinken“ – genau so wurde es schließlich auch in der lokalen Prawda angekündigt. Dann rauf auf die Bühne, das Intro läuft, nur hat sich einer der unzähligen Schaltknöpfe derweil selbst den Status „Mute“ verpasst und das im Generalmodus. Den Übeltäter zu finden erfordert Geschick und Gurke; die Spannung steigt wie in einer Mondrakete. Da schwebt sie schließlich aus den Boxen: „Die Schöne aus der Stadt“, die „An ihrem Garten“ so manches erlebt, womit der erste Spieldurchgang beginnt. Und man darf es voraus nehmen: Doktor Pichelstein scheint derzeit in der Form seines Lebens zu sein; selbst zartere Pratajev-Weisen werden in ein Tempo gelenkt, das es gar dem Sangesdoctor darüber ab und an die Sprache verschlägt. Dazwischen und immer gibt es Gurke, heftige Zustimmung im Publikum und manches Glas zerscheppert darüber auf dem Boden.

 

Nach der Pause rasen die Kapriolen weiter durchs Alster. Der lokale Depressionsgenerator „Wetterfühligkeit“ verstummt und lässt den Jubel branden. Unterm Bild der Mona Lisa ist alles gut und gerecht, folgt der Wunschzugabeblock und nur „Der Hund ist nicht das Schwein“ muss unberücksichtigt bleiben. Lieblingslied eines Zimmermanns aus Gotha, den es einst in die Weite der schönen Welt hinaus trieb, allerdings ohne vorher der Freundin darüber Bescheid gegeben zu haben. Mal schauen, ob sie noch da ist, die Freundin. Darauf eine Mutgurke und noch eine – für den Zimmermann. Doctoren schwenken um auf „Tonic mit was drin“. Es ist die Sonne der Nacht, sie ist braungelb und lacht.

  1. 30. März 2013, Roggenstorf/Fritz-Reuter-Haus
  2. 22. März 2013, Leipzig/Open Air Nikolaikirchhof: „Laut gegen Nazis“
  3. 15. März 2013, Leipzig/Waldfrieden & 16.März 2013, Leipzig/Dr. Seltsam
  4. 09. März 2013, Leipzig/Noch Besser Leben

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