Ein Kälteopfer mehr in Europa (248)


Bereits am frühen Nachmittag parkt der Bus am Dorfkrug zu Klossa. Ein nahezu heiliger Ort unter Bewohnern und Radfahrern der Gemarkung Jessen/Elster, nahe Wittenberg. Mit dem Rad kommt heute allerdings niemand durch; weiterhin bewegen sich die Kältegrade knapp unter der Diesel-Ausflockgrenze. „Bald werden sie wieder vom Jahrhundertwinter reden“, sagt ein Doktor dem anderen. „Wie wahr, dabei ist’s doch jedes Jahr winters dasselbe Spiel.“ „Und erst die Klimakatastrophe…“ Da ist er schon, Marcus, heutiges Geburtstagskind, somit Veranstalter eines späterhin mindestens als großartig zu bezeichnenden Abends. Doktoren werden in den Krugsaal hineingeführt, staunen über die großangelegte Licht- und Tonanlage zur Beglückung des Publikums. Auch an den Skatpokalurkunden der letzten drei Jahre verharren sie anerkennend. Inge hat Kaffee und Bockwürstchen fertig.

 

Nun befällt einen nicht jeden Tag ein Déjà-vu. Inge, Senior-Chefköchin im Dorfkrug (ehedem Messe-Häppchen-Profiteuse in Leipzig, GDR, brachte somit vielleicht erstmals Kaviar und Aal nach Klossa) mag zwar 10 Jahre mehr auf dem Buckel haben, als das gestrige Velten-Körnchen. Doch Inge hat’s ebenso faustdick hinter den Ohren, flirtet mit Doktor Makarios, als gäb’s kein Morgen. „Ich kann das auch noch mit der Stange, wie diese jungen, nackschen Dinger heutzutage. Nur würd ich mindestens 500 € nehmen!“ Verblüfft sieht man sich an, bekommt dafür Klapse auf den Po geschenkt, nun denn. Schnell zu den Bockwürsten, dann ins Sky-Bundesligazentrum. Gastfreundschaft kennt keine Grenzen, herrlich.

 

Ende der 2. Halbzeit steckt Grand Seigneur KuK den Kopf durch die Tür, immer wieder schön und Hallo, Russ and the Velvets haben’s Tagesziel dito erreicht. Es wird sechs und sieben, gefühlt könnte es bereits Mitternacht sein. Doch dafür stehen, bzw. sitzen sie alle noch, die Gäste im Dorfkrug. Marcus wird von allerlei Händen bedrückt; die Geschenkecke quillt über. Am Katzentisch, vorne an der Schnapsbar, sitzen auch welche, tippen wir mal auf Nachbarn. „Die trauen sich nicht rein“, sagt ein Doktor dem anderen, auf dem Weg zur Feuerschale, der heutigen Rauchstätte, immer bestens besucht. Möglichst mit der Flasche oder dem Schnapsglas in der dafür vorgesehenen Hand. Jene Feuerstelle wird gewiss Mitschuld daran tragen, dass Doktor Pichelstein zwei Tage nach Klossa fiebrig hinüber ist. Nun gut, wer nach einem durchaus kräftezehrenden Konzert mit schweißnassen Haaren durch Sibirien stakst, sollte sich darüber nicht wundern. Erst als die ersten, vereisten Haarbüschel beim Wuseln abbrechen, wird an leichte Kopfbedeckung gedacht. Zu spät, ein Kälteopfer mehr in Europa: Doktor Pichelstein.

 

 

Die Doctors spielen heute Sandwich. Zwischen Hamburger Blumfeld-Verehrern und jenem Cottbus-Kommando, das es nur einmal geben kann: Russ and the Velvets. Diese Kombi gab es schon einmal: 2005 in Großenhain, Open Air. Einst wurden die Velvets, je näher sie sich an den Zugabeblock heran kämpften, immer nackiger. Heute kleiden Big Boss Russ Rockerstrapse nebst Heldenröckchen. Alles in allem: Voyeure des Dramas, Adieu Tristesse!

 

Das alles erst später; Pratajevs Erben spielen auf und es macht großen Spaß. Der Dorfkrug sitzt bereits nach wenigen Minuten Kopf. Makarios jongliert mit delikaten Zutaten des pratajevschen Wörterbuches, Pichelsteins Gitarre wird mit reichlich Bühnenwodka angetrieben; der Lichtmann am Pult zaubert wie einst Arthur Penn es tat. Dann reicht’s. Raus an die Schnapsbar, respektive Kälteopfer werden an der Feuerschale. So vergeht sie, die Nacht zu Klossa an der Schwarzen Elster. Die letzte Band sorgt filigran dafür, dass alles im Fluss bleibt. Noch zwei bis vier Pfefferminzgetränke in Grün an der Bar, Doktoren werden hernach mit den Velvets nach Schweinitz, ins „Haus am Wald“ aufbrechen, um am nächsten Frühstückstag gemeinsam ordentlich Schimpfe zu bekommen.

 

"Sie haben geraucht!“
"Wir haben sogar geatmet.“
"Generalreinigung!“
"Wasserleitungen abgestellt.“
"Oder eingefroren."
"Kann sein."
"Warst Du auch noch auf dem Klo?“
"Wie sollte ich das mit den Wasserleitungen denn wissen?“
"Zimmermädchen möchte ich jetzt nicht sein.“
"Nee.“
"Wo ist Schlüssel zwei?“
"Oh, hier, nee, das die Vier“.
"Dann steckt die Zwei in der Vier.“

 

So geht das eine kurze Weile hin und her. Am Ende sind die Autoscheiben freigekratzt, der Rücktransfair gen Klossa darf starten. Vielen Dank, lieber Marcus, großer Abend, großes Fest.

Das wilde Körnchen (247)


Draußen klirrt’s Wintermärchen in der Uraufführung 2012; Doktor Makarios kann die damit einhergehenden Temperaturen überhaupt nicht leiden - nahezu frisch bis vulkanig aus mediterranen Eilanden heimgekehrt. Doktor Pichelstein beschwert sich bitterlich über eingefrorene Wischwasserschläuche. Doch immerhin verteilt die Heizung im Bus Liebeserklärungen an seine tourenden Insassen.

 

Einmal mehr geht’s heute ins Brandenburgische, nach Velten. Bei minus 15 Grad, Tendenz fallend. Ein zementiertes Russlandhoch, dunkelblau auf der Wetterkarte, trägt eisige Schuld dafür. Ein ums andere Mal werden Rastplätze angesteuert; die Frontscheibe verliert mehr und mehr an Durchsicht, knapp hinterm Berliner Ring gefriert die Fahrbahn. So rutscht man weiter durch bis nach Velten. Endlich. Ab in die Wärme hinein, in Mic’s Bar. Kaum am Tresen angekommen, werden erste Getränke feilgeboten. „Und wenn Ihr Hunger habt – Ich hab da mal ein Buffet aufgebaut“. Wanderer, was willst du mehr?

 

Nach Hotelein- und Soundcheck treffen die Abordnungen von Concordia Teschendorf bis Krumme Rute ein. Baumfreund Ekmel gab im Vorfeld alles, um die halbe Gegend in die Bar zu locken, warf sich (der Legende nach) höchst selbst vor in die Ferien fahrende Anglerautos. Krankenscheine werden telefonisch eingereicht; man hofft umso mehr auf den Zuspruch bisher nur teilbedarfter Pratajev-Freunde - und braucht in der Pause, nach dem ersten Konzertblock, nicht lange danach zu suchen.

 

 

Im Raucherfoyer hagelt’s erste Gastkritik: „Nee, die Texte sind mir zu hart“, sagt eine, die es wissen muss. „Es kommen noch weichere“, entgegnet Makarios dem älteren Semester. Dann ist es da, das wilde Körnchen, tanzt sich beschwingt heran. „Hart muss es sein!“ ruft es dem verdutzten Makarios auf dem Rückweg zur Bühne hinterher. Nicht ohne vorher noch Visitenkarten zu verteilen.

 

Begann das Konzert aus aktuellem Anlass mit Pratajevs Lied über die Gefrierkatastrophe von Bolwerkow, „Als das Eis kam“, geht’s nunmehr weiter mit schlimmen, weichen Tierliedern. Das wilde Körnchen samt Geburtstagsbelegschaft treibt im Hintergrund dazu ihr Feinwesen. Vorn stellt Krumme Rute die textsichere Übermacht, Concordia Teschendorf sitzt derweil im Leder. Baumfreund Ekmel sorgt bis über den letzten Zugabeblock hinaus dafür, dass die Doctors nicht dürsten. Auf die Bühne gereicht werden in gehaltvollen Abständen tschechische Süßschnäpse, die genauso aussehen wie ein brennender Slibowitz. Lecker und klebrig. Doktor Pichelsteins Plektrums verlieren sich des Öfteren darin.

 

Dann ist Schluss, aber nicht mit lustig. Körnchen rückenmassiert Doktor Makarios an der Schnapsbar; der arme Doktor weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Da hilft nur die Flucht nach vorn, ins Foyer der Raucher. Leckerer, süßer Tschechenschnaps steht bereit. Hinein damit in den Schlund. Doch weit gefehlt; es ist ein Slibowitz und der Gaumentrog zieht bittere Falten ins Gesicht. Nun denn, was soll’s. Beim Eishockey würde man jetzt rufen: Bully Bully Bully, hinein!

 

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