Zweihundertfünfzig! (250)


Ein Hauch Aufregung durchzieht die letzten Tage. Je näher das 250. Konzert der nachweltlichen Geschichte Pratajevs rückt, umso heftiger sickert’s Adrenalin bauchabwärts. Als Tags zuvor in der Leipziger Volkszeitung Doktor Pichelsteins Interview über die intimen Hintergründe des sich anbahnenden Flowerpowerabends in Bild und Text erscheint, wird’s nicht besser. Leichtsinnig erklärte der Gitarrenverantwortliche der Doctors dort, dass „meinetwegen 250 Stunden“ gespielt werden könne. Die Folgen blieben nicht aus und sollen an dieser Stelle keineswegs unerwähnt bleiben. Ja, wie die Zeit vergeht. „Sollen wir vorher proben?“, fragte ein Doktor vorfeldig den anderen. „Ach wozu“, sagte der. Wie recht er hatte. Bislang war es zudem so, dass es Pratajevs Lyriken beinahe ausschließlich via Soundcheck schafften, ins Liveprogramm zu gelangen. Manche wurden darüber hinaus gar völlig vergessen. Nur beinharte, doctoreske Konzerthistoriker werden sich diesbezüglich noch an frühe Stücke wie „Im Mondlicht die Pappel zittert“, „Die Wumme“, „Kamm aus Horn“ oder „Der Rumpf“ erinnern.

 

Vorboten des Frühlings lassen die Sonne tief ins Gemüt scheinen, gut so. Auch der Parkplatz vorm Leipziger Flowerpower wird zum Geschenk. Dann mal alles rasch hinein, die Bühne aufgebaut, das Bagel-Catering verdrückt – mit fettigen Fingern davon gleich die ersten Gäste begrüßen. Chemnitz-Stadt ist schon da; Karl-Marx-Land folgt später und Gurt Kaktus, nebst sehr junger ex-Praktikantin, beleuchtet das Sein mit sich und einer neuen Schnapsschwarzmarktblüte namens „Prumskis Beschleuniger“. In der Drittelpause wird’s eine Pratajev-Tombola geben; unglaublich, was der Herr Kaktus dafür alles aus seiner Plastetasche zaubert. Selbst ein Buch aus der Bibliothek Anatoli Prumskis befindet sich darunter, versehen mit einem Echtheitszertifikat von Prof. Igor Bulgatschow II sen. Die Uhr schlägt 21 Uhr; das Flowerpower wird zum Füllhorn, an der Schnapsbar machen sie sich Sorgen: Kein Durchkommen mehr ab 21:30 Uhr. Wenn doch bloß endlich mal jemand die Kneipenrohrpost erfinden würde. Euros in die Schatulle, Getränk feuert zurück. Dann feuert die ankommende Berlin-Sektion.

 

Vertreter des modernen Pratajevforscherflügels, in Persona: Winogradow, Eademakow nebst Damengeleit, rumpfgehüllt in rotes Shirtzwirn, darauf gedruckt: schwarzes Kyrillisch zur Feier des 250. Konzerttages, wie der frohgemuten Ankündigung nach der 2. Drittelpause gar selbst die Pratajevbühne entern zu wollen. Und zwar mit der Darbietung eines Stückes der Gypsy-Punk-Band Gogol Bordello, von dem im weiteren Verlauf der Pratajev-Forschung noch die Rede sein wird. Eine Botschaft also schöner als die andere. Das verehrte Volk um Goethes Erbsen weiht dem Tag gar eine Bildung, schwarze Farbe auf Stoff, Pratajev im Kreis der Doctors. DAS Relikt fürs Dichtermuseum, von dem ja immer mal wieder die Rede ist. Eine dreiviertelkomplette Bürogemeinschaft ergattert den letzten freigehaltenen Platz: Betriebsausflug am Donnerstag! Freitage werden überbewertet! Das denkt sich seit Jahren ebenso jener Sizilianer mit bayerischem Dialekt, der fortan mit einer Vertreterin aus Chemnitz-Stadt in Kommunikation gerät. Psychologen, Vertreter der Universität Leipzig, lange nicht/eben erst/nie gesehene Menschen drängen sich vor die Bühne. "Irgendwo im Volk muss mein Doktor sein", denkt der eine Erbe Pratajevs über den anderen. „Vorsicht, Vorsicht“, brüllt Chefkellner Strobi mit dem vollsten Getränketablett in Händen, was je eine Flowerpowertheke verließ…

 

Viele dieser großen, kleinen Geschehnisse im Konzertheißlauf gibt es weiterhin zu berichten; die Zeit rinnt dabei selbst beim Beschreiben von der Uhr - wie’s Flüsschen zum Bache schwillt. Allen sei an dieser Stelle ausdrücklich, herzlich, russisch, drückend, händeringend, bruder- und schwesterküssend gedankt! Und wer nicht da war, wer das 250. Konzert der Russian Doctors im Flowerpower tatsächlich verpasste, nun ja, der muss vom Hörensagen leben. Aber das kann auch nicht schaden, denn die nächsten Konzerte kommen ganz gewiss. Wiegt Eure Rümpfe dazu! Statt weiterer Berichterstattung, nunmehr Eindrücke, gefangen genommen von Branislav Malymozek, dessen Leitsätze fürs neue Jahr hier gerne wiedergegeben wird:

 

Neues Jahr
Wunderbar
Das alte weggesoffen
Das neue lässt uns hoffen
Auf guten Schnaps und schöne Frauen
Auf was zum Rauchen, was zum Kauen
Und Freunde, die mit dir was singen
So wird das neue Jahr gelingen

 

 

 

 

 

 

 

Unterm Kreuz aus Holz (249)


Na, wer kann schon als reisender Musiker von sich behaupten, jemals in einer Friedhofsverwaltung aufgespielt zu haben? Weiterhin gar auf den Geburtstagsfeierlichkeiten eines bestimmt weichen Kissens? Natürlich niemand. Obwohl das mit der Örtlichkeit, unterm Brennglas betrachtet, nicht so ganz korrekt ist. Bühne und Partyraum werden alltags weder von Sensenmännern noch von Gottesackerbuchhaltern bewohnt; eher spielen sich Malgruppen der katzischen Kita „Mischka“ sowie andere Ortsaktivitäten in die Hände. Aber nun. „Friedhofsverwaltung“ steht am Eingangsportal und da wollen wir’s nicht unerwähnt lassen.

 

Gleich um die Ecke präsentiert sich berglings eine spätrömische Kirche, in der sich nicht nur Teile der etwa 570 Einwohner des unteren Greißlautals am WGT die Arme reichen, nein, auch Ostrock-Duos treten hier dann und wann in die Fußstapfen von Mönchen und Nonnen. Wobei jetzt sofort gerufen werden muss: The Russian Doctors sind kein Ostrock-Duo! Und wir wollen auch nicht sagen, wer eines ist. Denn dann heißt es wieder: Im Tourtagebuch der Doctors wird über verdiente Musikerpersönlichkeiten gelästert. An wen gedacht werden dürfte, wird ebenso nicht verraten. Nur noch, dass ein WGT kein Wave-Gothic-Treffen ist, sondern zumindest in Langendorf immer noch als Kürzel für den jährlichen Welt-Gebets-Tag der Frauen (jeweils am 1. Freitag im Monat März) Verwendung findet. Zum Beweis dafür hängt ein Kreuz aus Holz an der Wand des Partyraumes. Genau darunter, Heiligenscheine stets tüv-geprüft mit sich führend, schrauben sich die Doktoren Makarios und Pichelstein den Auftrittsort zurecht.

 

Die Fahrt hierher gestaltete sich recht mühsam; ein russisches Hoch schrieb den Doctors kurz vor Reiseantritt folgendes Fax: „Ihr singt immer noch vom Dichter Pratajev? Dann spürt am eigenen Leibe, wie kalt es der im Winter hatte. Nämlich sehr kalt. Und passt beim Rauchen draußen mal auf, dass Doktor Pichelstein diesmal auch ja eine Mütze auf dem Kopf trägt. Nachts schicke ich Euch mal Minus 23 Grad runter. Maximale Erfolge“. Und so kam es dann auch. Auf dem viel späteren Weg zur Weißenfelser Pension Liebert (wegen Trauerfall morgen kein Frühstück), gewahr werdend, beim Blick aufs Außenthermometer. Schockstarre.

 

Doch bis dahin vergehen insgesamt sehr lustige, deftige, leckere und feierliche Stunden, werden die Doctors vom Geburtstagskissen nach der ersten Drittelpause mit je einem handgefertigten Schlips aus Lurch sowie einem gelben Fettfrosch beschenkt (dafür sei der Dank unermesslich, bestimmt gibt’s viele Erinnerungsfotos), erklären sich Pratajevs historische Lyriken wie „Der Bauch“ im Einzelunterricht und ganz hervorragend: Ein Kollege Igor Pavlowitschs ist ebenfalls zugegen. Kurzum: Viel hat man sich zu erzählen, darunter mixen sich kalte Getränke zu warmen Konzertblöcken. Es gibt alles, was das Herz begehrt und manches, was es lieber nicht gehört hätte. Na gut, wenn im Katzenkitaumfeld wider Erwarten die Katze im Lied stranguliert wird… Der Beifall ist stets auf hohem Niveau, ein Abend, den das Dorf bestimmt lange in Erinnerung behält, neigt sich dem gelungenen Ende. Froh ist man, dass alle beim Abtransport der Bühne zum Bus mit anfassen und dankbar dem Kissen, der Katja, der Melanie und natürlich darüber, dass in der Pension Liebert die Heizungen bestens funktionieren. Da sieht man schon mal über, sagen wir, interessantes Geschmacks-Interieur hinweg. Doch seht selbst:

 

 

Das ist eine Deckenlampe in Bauchhöhe

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