Schnaps mit Kräutern aus dem Weingläserwald (244)


Du meine Güte, kann Bockwurst ekelig sein. Vor allem, wenn gemeines Verkaufspersonal die eigentlich leckeren Tour-Senfpeitschen gefühlte zwei Jahre und acht Monate im selben Heißmacherwasser beließ. Kaum Richtung Dresden, am Rastplatz Muldental, erworben, schon stehen die Russian Doctors an der Folgeraste, um den viel zu dicken Widerling aus der Obhut des entsetzten Doktor Makarios gen Abfallkorb zu entlassen. Nur gut, dass Pichelstein keine Peitsche wollte. 3,69 € gespart. Zu allem Ungemach schreit die Fußball-Konferenzlerin Sabine Töpperwien den gesamten Wagen mit jedem neuen Tor der Dortmunder Borussia zusammen, Nürnberg verliert tragisch in der 3. Minute der Nachspielzeit. Fehlt nur noch der einkalkulierte A4-Stau vor den Tälern unserer Landeshauptstadt.

 

Doch nichts dergleichen. Nahezu rasant parkt der winterbereifte Audi überpünktlich, bei Schlagern aus dem Heimatsender, am Körnerplatz 3, knapp hinterm blauen (aktuell jedoch eher rostigem) Wunder. Hinein mit der Backline ins urige Bräustübel, rasch werden die Doctors an heutiger Spielstätte eingewiesen (Schnapsbar, Bühne, Vorbands und dergleichen). Schon steht man draußen im kühlen Abendlüftchen, von Winter keine Spur - im April war’s dieses Jahr bereits viel kälter. Am Hang leuchtet die Standseilbahn, in Händen der Erben Pratajevs funkeln dito Augustinerbier nebst Cocktailleckereien. Dann kann’s ja losgehen mit der 2x 40er Jahre Party, stimmt, denn die beiden Hauptakteure des Abends trudeln ein und das Hallo ist groß.

 

Im oberen Ambiente der Partystübel fordert die erste Metalband sämtliche Fensterdichten der Gegend heraus, unten laben sich Makarios und Pichelstein an der Speisekarte. Würzfleisch, lecker. Man steigt von einer Bier-Sorte auf die nächste um, wechselt ab und zu die Cocktail-Beschaffenheit und smalltalkt sich durch feiernde Stunden. Einiges Publikum will die Russian Doctors auf dem vergangenen Elbhangfest mittlerweile als Band mit Schlagzeug und mehr gesehen haben, doch solcherlei Fälschlichkeiten wollen wir mal dem allerorten zügigen Herannahen an die (beachtliche!) Freigetränke-Grenze zurechnen. Metalband zwei spielt derweil; die Fenster halten, dem Partyvolk geht’s prima.

 

Bis Mitternacht ist plötzlich nicht mehr viel Zeit auf der Uhr; die Doktoren erheben sich erstaunlich fit aus den Stühlen, basteln am gerechten Sound, Feldmänner erklingen, russisches Landleben erwacht. Voll ist’s vor der Bühne und darauf geschieht bald recht interessantes; Schnaps mit Kräutern aus dem Weingläserwald wird in immer kürzeren Abständen, per Tablett, herangeschafft. Die ersten Runden gibt’s zum Prosten noch in den Liedpausen, die weiteren folgen mitten im Set. Bedeutet für Doktor Pichelstein etwa: „Beim Bücken“ spielen und dabei zeitgleich ein Weinglas Schnaps, vom Kellner direkt in den Schlund gekippt, verarbeiten zu dürfen. Flüssigfütterung auf dresdnerisch, gar nicht so leicht. Vor allen Dingen, wenn blind von E-Dur unten nach cis-Moll mittig gegriffen werden muss. Aber es klappt heute ja eh alles wie am Schnürchen. Die Bockwurst, Sabine Töpperwien: längst vergessen. Die Icefighters Leipzig gewinnen zudem 11:4 gegen Fass Berlin, der Saus im Saal greift weiter um sich. In die Zugaben mischen sich gar „Sie sagte“ und ein gewisser „Ozean“ hinein.

 

Den vielen, leckeren Bühnengaben geschuldet, geht’s schlussendlich dorthin, wie die Schnäpse wohnen, zur Schnapsbar. Doktor Pichelstein versucht sich noch in der Weitergabe seines kleinen Gitarrenwissens, bevor das Mescalero-Taxi hupt und mit großem Schwung der Rückbank-Erstschlaf kurz gesucht und wenige Meter auf dem Weg in die Neustadt prompt gefunden wird.

Spoutana.cz (243)

Die kleinäugigen Herren Doktor Makarios und Doktor Pichelstein bewegen sich schwerlich an Deck. Hart war das Ei, härter der Abend nebst Konzertnacht zuvor. Nichts wie unter die Sonne, auf zur Josefina, der schlanken, drahtigen Fährverbindung zum anderen Moldauufer. Doktor Makarios dichtet derweil am Epos "Der Fluss". Leider dauerte die Überfahrt nach Smíchov ganze zwei Minuten, entsprechend kurz gehalten ist die Lyrik: "Oh Fluss, Fluss, oh Fluss. Schlingst deinen Arm um die Stadt." Ende, alles ist gesagt. Eigentlich wäre man dann gerne noch mit der Seilbahn gefahren, doch mindestens 23 Schulklassen hatten dieselbe Idee. Bleibt die Flucht und der Trend zum zweiten Frühstück hält an. Das Handtelefon steht nicht still; in der Heimat glühen die Denkerköpfe – die neue Art-CD/DVD steht kurz vor Abgabe ins Presswerk. Ein feiner Tag wird’s, der letzte Sommertag im Herbst. Auch wenn man’s beim Pivo an der Karlsbrücke kaum zu glauben vermag. Schweinern geht’s gebraten weiter: Erntemarkt. Dazu Starkbier der Brauerei Ferdinand. Grundsätzlich müsste sich mal folgendes gefragt werden: Wenn alle hier in Prag immer so viel trinken, Touristen wie Prager, wer um alles in der Welt braut so viel Pivo? Da müssen ja ständig Sonderschichten gefahren werden. Und erst der Export! Wahnsinn. Asiatische Verhältnisse in fleißig. Deutsche, Griechen, Spanier, schaut auf dieses Land.

 

 

Žížkovs imposanter Fernsehturm mit den Krabbelkindern dran wird vom Taxifahrer recht waghalsig erreicht. Der zottelige Steuermann hustet dazu in einem fort, mit jedem Schlagloch wird es schlimmer - beide Doktoren würden gerne Mundschutz tragen. Bloß sich keinen böhmischen Killervirus einfangen, wie beim letzten Intensiv-Pragausflug 2009, der Doktor Pichelstein wenige Tage später ohne Umwege direkt in die nächtliche Notfallaufnahme führte. Schüttelgefrostet, mit einer Gartemperatur von knapp 40 Grad Celsius. Wenn einem, so erschienen, die nicht mehr sehr junge Krankenschwester offeriert: „Gehen Sie mal morgen zum Hausarzt, wir können nachts um drei überhaupt nichts für Sie tun“, weiß man spätestens, dass der Dienstleistungssektor, speziell im Leipziger Osten Deutschlands, wenig hinzugelernt hat. Die Sache ging dennoch gut aus; Doktor Pichelstein täuschte eine mittelschwere Ohnmacht vor und wurde wenig später mit einer längerfristigen Arbeitsunfähigkeit beglückt.

 

 

Schon steht man vorm Berg, dem Paruká?ka; wie eigentlich immer wird sich mit geschultertem Equipment bis ans Ziel gekeucht. Und das Ziel ist groß! Jolana, zurück aus Ägypten, Goldeck-Geiger-Pavel, Phil, Jarda und: tata, da isser: DJ MC Špína, gestern noch einer der Langschläfer im Oka, heute bereits wieder redselig angetütert. Špínas vordere Zahnverluste der letzten Zeit führen allerdings dazu, dass kaum ein Wort (im Kauderwelsch aus Tschechisch-Deutsch-Englisch) zu verstehen ist. Doktor Pichelstein versucht in einer ruhigen, abgeschiedenen Schnapsbarminute einem gewiss weltgewandten Satz zu lauschen. „Pivo, Schnapps-Shots“ – mehr ist beim besten Vokabular-Willen nicht zu eruieren.

 

Der Soundcheck eilt voran; der doppelte Jarda weilt nämlich zugleich im Oka, ergo muss alles rasch über die Bühne gehen. Der Wirt ist glücklich und wird es, zumindest heute, die ganze Nacht über bleiben. Am Tresen wird gefeiert, besser: getrauert, denn vor genau einem Jahr starb einer der Paruká?ka-Gänger. „Wir machen das in seinem Sinne“, erläutert ein kleines Blechmädchen mit einem Randvollglas Slibowitz in der Hand. Dann los, Grillsenf von den Backen gewischt, The Russian Doctors spielen um ihr Leben. Das klingt fürwahr übertrieben, doch dem ist nun mal so. Doktor Pichelstein: kaum zu bändigen, Doktor Makarios Ansagen sind kurz gehalten, doch was sie verkünden, trifft die Menschen ins Herz. Die Rede ist natürlich von Pratajev, seiner Zeit in Prag. Die Rede ist von heute dito wieder ausgelegten Gedichten des großen, russischen Poeten. Und schon bald, das Konzert schwitzt sich in die Pause, wird allen Anwesenden historisches Gewahr: Die erste, öffentliche Pratajev-Lesung in tschechischer Landessprache beginnt. Die Lyrik „Gefesselt“ hat es allen besonders angetan, wird rezitiert in ihrer ganzen tragischen Weite bis Lüsternheit. Selbst der Wirt macht schließlich mit, umarmt dankbar Doktor Makarios glühenden Auges, führt Doktor Pichelstein geschultert an die Schnapsbar. Hier angekommen macht es auch nichts, dass mitunter der gesamte Becherovka-Vorrat ausgetrunken wurde. „Das gab’s noch nie“, jammert die Tresenfrau. „Das gab’s bei den Russian Doctors schon oft“, bemerkt Pichelstein voller Stolz. „Slibowitz“, wird gerufen und „Fernet für The Russian Doctors“. Weiter geht’s.

 

 

MC Špína war der Letzte am Mikro; Doktor Makarios versucht fortan, der nunmehr triefnassen Sangesgerätschaft nicht mehr allzu nahe zu kommen. Doch dann ist alles egal. Die Zugaben führen einige Mädchen aus besseren Kreisen in den Club hinein. Eine wird später von Pferden berichten. Die andere, im verknüllten 45-Grad-Winkel, auf einer Bank liegend, sehr herzhaft brechen müssen. Weniger im leisen Schwall, eher brachial, ja überzeugend. Macht nichts, wird schon wieder, kümmert gerechter Weise keinen. Schließlich, nach ergreifenden Verbrüderungen, müssen die Doktoren ins SMS-Taxi, ins Botel zurück. Es geht einfach mal nichts mehr; draußen hat’s geregnet und ein kalter Wind weht über das anbetungswürdige Antlitz des Paruká?ka. „Kommt wieder!“, ruft der Wird. „Machen wir“, winkt Doktor Makarios in die letzte kleine Menschenmenge hinein. Dann ist kalter Herbst und man wird sich beim Tesco am nächsten Tag wohl oder übel eine dicke Jacke kaufen müssen.

Unterkategorien