Herbstallerliebst (438)

 

Regen. Es regnet seit zwei Tagen ununterbrochen. In allen Facetten. So, als stünde man unter einer Baumarktdusche und hätte die Umschaltwahl aus: Landregen, Platzregen, tröpfeln oder kärchern. Verwaschen sind alle Konturen und lassen den späten Nachmittag in einem Graubrei verschwimmen. Der Herbst grüßt von seiner doofen Seite und putzige, von Ast zu Ast springende Eichhörnchen, sind ebenso wenig auszumachen wie Igel mit einem genehmigten Antrag auf Winterschlaf im milchnassen Schnäuzchen.    

 

Die Suche nach der Auffahrt für die passende Leipzig-Bundesstraße mit Ziel Thüringenautobahn macht das alles nicht leichter. Bockwurstgeschwängert harren die Docs im Tourauto der Dinge. Da nützt kein Schnecke-mit-Fernweh-Navi, denn das plärrende Ding führt dich nur ins frisch gesperrte Elend zurück. Bis Makarios wieder einmal die Navigationsprüfung mit kühnster Bravour besteht und der Einklang des Konzertwochenendes Fahrt aufnimmt. Endlich schneller Asphalt unter den Reifen. Pichelstein gibt Gummi und wird bis zum heutigen Ziel der Reise ein verlorenes Stündchen aufholen.

 

Zwickau heißt es. Kurz bevor aus 3G 2G wird. Es sind halt verrückte Zeiten, in denen Veranstalter und Musiker auf der Strecke bleiben. Grundsätzlich ist das alles nicht gut, ganz schlecht sogar, denn ein Ende der Corona-Prohibition ist nicht mal mit dem Fernglas in Sichtweite. Umso dankbarer sind die Docs für den heutigen Abend im il Tavolino, in der Max-Planck-Str. 42, zum gesamt dritten Zwickau-Konzert anreisen zu dürfen. Nach vielen wunderschönen Privatpartys nun also wieder offiziell Einlass für alle, sofern: geimpft, genesen, getestet. Und danach gleich nicht mehr, denn ab nächster Woche gelten (man will es einfach nicht mehr hören) verschärfte Corona-Regeln. Sei es drum. Heute vermag abseits konformistischer Beiklänge der Schnapsbar und Pratajev gehuldigt werden, fließt der Vodka herbstallerliebst in Strömen.

 

 

 

Just angekommen wird die veranstaltende Liederbuch-Crew mit gepflegt manierlichem Übermut geherzt und die bereits angerichtete Bühne in Augenschein genommen. Vorm il Tavolino steht eine Corona-Teststation. Nach dem Soundcheck gilt es: Nicht einfach nur lecker schmausen, sondern Kalorien ein Zuhause geben und dem vermaledeiten Veganer-Ausruf „Schwein gehabt“ glücklich zu frönen.

 

Wie der Tropfen sich zur Flut verhält, so läuft es heute mit dem Publikum. Anfangs dachte man schon laut: „Hm, heute spielt der große Roland Kaiser in der Stadthalle. Haben wir da eine Chance auf volle Bestuhlung?“ Die Antwort lautet um Punkt 20 Uhr: „Ja!“ Und sogleich wird der Preis für die weitestete Anreise an die Pratajev-Sektion Nürnberg vergeben. Noch schnell ein Abstecher zur Bar, wo Zapfhenne und Zapfhahn ihr bestes, kühles Nass hergeben.

 


 

Mit „Schwermut im Herbst“ startet die Pratajev-Sause anfangs noch salbungsvoll, doch bereits mitten im Lied Nummer 2, „Wodka Wodka“, hält es Zehnkampf-Schnellfinger Pichelstein nicht mehr ohne Gitarrenfuror aus. Es macht einfach zu viel Spaß wieder in einem Club, auf schöner Bühne und mit bester Technik, zu spielen. Gebremst wird er nur dann, wenn Makarios mit verruchter Stimme die lyrische Bandbreite Pratajevs erhellt oder ein Titel wie „Rundblick vom Turm“ erneute Ruhe vor dem Sturm verspricht. Wenn es dann doch mal zu schnell wird, sich die Doctoren deshalb im Gitarrenfeuer textlich verfangen, gehören die Schultern gezuckt und Pichelstein schaut seriös wie ein Pinguin, der sich das alles auch nicht erklären kann.

 

Im Publikum wird derweil mitgesungen, geklatscht, innerlich getanzt (äußerlich geht ja nicht wegen der Corona-Prohibition) bis die Schwarte kracht und der erste Schnapsbar-Pausengong nach dem Fetisch-Block ertönt. Hach, wie ist das schön! Mit der Muse Vodka Bulbash in Gedanken, später in Händen, gewann Pichelstein soeben erneut an Weltrekordzeit hinzu.

 

 

 

Auch im zweiten Konzertblock ist nichts und niemand im Zaum zu halten. Kaum verschwindet der „Rotarmist“ im Rückspiegel, wird „Der Faule“ angesagt, geistern Pratajevs beschriebene Sittenbilder vom launischen Fiesling bis zum lupenreinen Lump aus den Boxen. Japsend geht’s nach knapp drei Stunden gen Zugabeblock. Ein lustiger Irrtum ist darin noch, dass Makarios „Der Abend ist gelungen“ vorsagt, Pichelstein indes „Der Arme“ versteht und sich das Konzert entsprechend verlängert. Denn mit einem derart traurigen Lied darf keine Zielgerade erreicht werden.

 

Die „Löcher im Strumpf“ reißen das Ruder rum und münden in der allerletzten Walzer-Schnapsbar. Während einige Luftmeter weiter der große Roland Kaiser bereits und sicherlich ebenso glücklich wie die Doctoren die Gunst der Gegenwart genießt und weiß: Das Leben ist zu kurz für irgendwann. Als Inspiration für einen neuen Hit, der noch geschrieben werden muss.    

 

  

 

Bilder 1-3: Danuta Molotova 

    

Freiheit für Quittenbüsche (437)

 

Indian Summer! Dritte Jahreszeit, in der Pilzsammler Waldleichen entdecken. Goldener Herbst! Nein, keine trüben Gespräche über vorletzte Lebensabschnitte drohen. Im Gegenteil: Ein Tohuwabohu steht an, ein Naturkonzert am Leipziger Gleisdreieck-Areal, wo der Kleingartenverein (KGV) Reichsbahn-Connewitz e.V. sein Domizil hat.

 

Genau das möge bitte für immer so bleiben, obschon die Stadtwerke genau hier ihre nigelnagelneue Unternehmenszentrale zu errichten gedenken. Da darf sich jeder Pächter Sorgen machen. Vor allem, wenn man selbst nicht in derartige Pläne eingeweiht ist, nur die BILD-Zeitung alles besser weiß.

 

Die Doctors drücken alle Daumen, dass der KGV Reichsbahn-Connewitz bleibt. So eine schöne Gegend verballhornt man nicht mit Beton, Stahl, Glas und Strombörsen-Yuppies. Freiheit für Quittenbüsche! Und lieben Dank für die Früchte, sagt vorab der damit reich beschenkte Marmeladendoctor Makarios.

 

Die Sonne gibt noch mal alles, auch wenn die Tage plötzlich verdammt kurz geworden sind. Es ist einer dieser Herbsttage, an denen nachmittags noch T-Shirts, abends jedoch dicke Jacken verordnet werden. Pichelstein lenkt den frisch geTÜVten Tourdiesel mit Schwung von der Arno-Nitzsche-Straße in die Kleingartenschlippe, wenig später folgt ein herzliches Hallo. Gastgeber Stefan hatte bereits Mitte des Jahres Geburtstag, heute wird die Gattin ein Jubeljahr jünger. Grund genug für eine bis in den frühen Morgen ausufernde Party im Grünen.

 

Getreu der alten Handwerkweißheit: „Viele Hände, schnelles Ende“ steht die überdachte Garten-Air-Bühne in Windeseile. Pichelstein entwirrt noch ein paar Kabel, dann geht’s zum Soundcheck über. By the way: In Sachen Kabel weiß jeder Gitarrist: Die Dinger führen ein Eigenleben. Du kannst sie noch so gut verstauen, am nächsten Tag kommt die Bagage einem Gordischen Knotenwerk nahe.

 

 

 

Es dunkelt bereits, als der von den Doctors verehrte Jens „Der Mann der mit der Luft schimpft“ Rachut aus den PA-Boxen röhrt und der Soundcheck für beendet erklärt wird. Feuerschalen werden entzündet, Kaltgetränke direkt auf der Bühne gezapft. Wie praktisch! Eine Bierfass-Quelle neben Doctor Pichelstein. Das ist sehr lobenswert, sollte gerne öfters vorkommen, weil: spart den Weg zur Theke. Und genau dort sieht man Makarios im Mischgeschäft stehend, gestikulierend, denn eben drang die Nachricht durch, dass die Grill-Schaschlikspieße fertig sind. Fortan wird es sehr schwer, all den feilgebotenen Leckereien zu entkommen, sich schlussendlich Ketchup vom Sakko zu wischen und mit dem Konzert zu starten.

 

Noch einen Mexikaner für Doctor Pichelstein. Einen mit Ingwer. Noch einen. Und danke (am nächsten Tag) für eine ganze Flasche davon. Wie gut, dass die rote Scharfwürzleckerei mit Wodka schwanger ging. Und nicht, wie einst am 24. Oktober 2009, im Chemnitzer „Subway to Peter“, auf Tequila-Basis gereicht wurde. Seit jenem Tag mit der Konzertnummer 191, Titel: „Überrollt von einer mobilen Schnapsbar“, verzichtete Pichelstein auf alles, was nah am Mexikaner gebaut war. Mehr muss man dazu nicht wissen.    

 

Mit „Da hält der Wind den Atem an“ geht’s los. Sieben weitere Titel folgen, ehe der „Gärtner“ dran ist. Erst jetzt spürt Torpedo Pichelstein die Finger auf dem Stahlsaitenruder wieder. Was für eine Erleichterung; als sich der erste Schwitzbach auf die Schwerkraft-Reise macht, gleich alles einem aufwühlenden Vergnügen mit eskalierenden Gästen. Sogar eine Tierärztin ist heute dabei. Natürlich wird sie gerne bestätigt, Pratajevs Kunde von den Tierärzten, die in Russland auch Menschen heilen.

 

Nach dem ersten, einstündigen Brachialgewitter (und ein paar zarten Tönen) darf Pause sein. Spontan übernimmt eine Hiphop-Crew und rülpst mangels Wortwitz-Textsicherheit in die Mikros. Der Schnaps wirkt, die Kappen sitzen, Funken schlagen aus den Feuerschalen. Motiviert bis Oberkante Unterlippe schwingen sich die Docs zurück auf die Bühne. Nicht, dass sich Pichelsteins Finger wieder erkälten.

 

 

 

Makarios lotst die Gartengäste weiter durchs Pratajev-Universum, biegt – auf Zuruf – hier und da ab, verläuft sich aber nie. Ein Pulk Wegelagerer wird eingesammelt. Der „Satte“, das "nach Schnaps stinkende Mütterchen", der „Wanderer“, die „Schwimmerin“ und wie sie alle heißen. All das kulminiert schließlich zu einem großartigen Tote-Katzen-Chor - bis die eigentlich allerletzte Schnapsbar den Abend für gelungen erklärt.

 

Doch „eigentlich“ ist auch nur ein überflüssiges Füllwort. Leicht wie zwei Karosserie-Federn plus Stoßdämpfer und Lichtmaschine taumeln die Docs noch mal ins Scheinwerfer-Feuerschalen-Licht, wiederholen „Wodka Wodka“, tanzen mit den Feldmännern und liegen sich schlussendlich nach einer allerletzten Walzer-Schnapsbar in den Armen. Da öffnet sich jedes Herz. Und ein Hund, vielleicht namens Schröder, wedelt freudig mit dem Schwanz. Maximalen Dank für alles, liebe Gastgeber und Gäste.     

 

   

 

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