Kalorien ein gerechtes Zuhause bieten (440)

 

So neigt sich das nächste Corona-Jahr dem Ende, überwiegend war es eines zum Schrottwichteln mit sanft-brutalen Wortschöpfungen drin. Je simpler die Substantive, desto härter der Aufprall. Von einem „Verweilverbot“ - oder noch schärfer – von einer „Verweilverbotszone“ war etwa vor Anfang 2020 noch nie die Rede gewesen.

 

Wo sind wir da bloß reingeraten? Wenn einem das Verweilen schon genommen wird, du liebe Güte, das ist ja schlimmer als „Tanzverbot“, und genau das gilt gerade wieder in Berlin, dem Ziel der heutigen Reise.   

 

Dass die Doctoren tatsächlich zum 440. Konzert aufbrechen dürfen, stand lange in den Sternen. Doch Berlin ist nicht Sachsen, wo die Geisterspiele-Kultur auf zwielichtigen, amazonkontrollierten Streaming-Portalen wie Twitch versendet wird. Da die Corona-Beschränkungen Ländersache sind, darf in Berlin 2G-Plus-gefeiert werden. Und so kann ein immer wieder geschobenes Geburtstagskonzert tatsächlich im wunderbaren Brauhaus Südstern, direkt an der Hasenheide gelegen, stattfinden.

 

Auf geht’s. Mögen die Botschaften des heißgeliebten Literaten russischer Zunge, S.W. Pratajev, den Gästen, den Gastgebern Freude bereiten. Carte Blanche! In einer Welt, in der momentan nichts so ist, wie es scheint. Die Reisegesellschaft rückt im Mietbus zusammen. Wollen wir sie kurz vorstellen.

 

Thor ist dabei, Thor, der Hund, der immer sagt: „Du siehst Wow aus.“ NACH dem Leckerli. Dann Vincent, der vom Stamm der Tollpatschen (Monitorboxen beschwören immer die Schwerkraft, sobald die Heckklappe geöffnet wird) später zum Stamm der Technikkönige wechseln wird. Und Julia. Und zwei Doctoren. Allesamt von einem dunstig-winterlichen Milchglaswetter umschlungen. Auf Autobahnen, kaltglatt wie Schleckeis. Dennoch überholen bullige SUV-Typen, als hätten sie eilige Potenzmittel abzuliefern (und die Hälfte davon selbst gefressen).   

 

 

 

Stockfinster ist es, als das Ziel nach drei Stunden erreicht wird. Helfende Hände sind rasch zur Stelle, ein fröhliches Gesichterkarussell dazu. „Alle negativ“ vermeldet die Corona-Teststation im Brauhaus. Impfnachweise werden gecheckt, dann ist Zeit für ausgiebige, unmaskierte Begrüßung. Schwupps werden leckere Kaltgetränke verteilt, so muss es sein. Dir, lieber Kalle, Dir lieber Gregor die allerherzlichsten Dankesgrüße an dieser Stelle. Und allen anderen Sternis gebührt dasselbe.

 

Entlaufene Biker-Gartenzwerge donnern, ausstaffiert als Weihnachtsmänner, durch die Hasenheide. Pichelstein und Vincent basteln derweil Anlage, Backline und das Licht zurecht. Makarios trollt sich zum Mundwerk-Check dazu. Der Saal füllt sich, die besten Plätze sind direkt vor der Bühne zu vergeben.

 

Mancher Kopf summt wie ein Bienenvolk und arbeitet sich lyrisch am Vodka ab. Dann heißt es: „Das Buffet ist eröffnet!“ Lecker und viel essen, den Kalorien ein gerechtes Zuhause bieten. Gänsekeulen, Klöße, Rotkraut, jammjamm. Stufe 4-Veganer, die nur das in sich hineinmogeln, was keinen Schatten wirft, sind glücklicherweise nicht anwesend.

 

 

 

Gegen acht wird die Konzerteieruhr umgedreht. Mit „Da hält der Wind den Atem an“ startet der Reigen. Doc Makarios lässt gleich imaginäre Champagnerkorken knallen und stößt damit auf goldenen Boden. Doc Pichelstein treibt sein verlässliches Gitarrenkraftwerk mit jeder neuen Booster-Schluckimpfung zum Diskant. Allseits obsiegt die Euphorie, wird im Pratajev-Kanon mitgesungen. Rasch bilden sich Gläserwälder auf den Tischen. Es juckt in den Füßen, doch es ist Tanzverbot.  

 

Rugby-Club-Members aus aller Herren Länder, von der Uckermark bis Lyon, reißen die Arme hoch und schlottern nach der Schnapsbar-Fetischblock-Pause Richtung Theke. Ob doch getanzt wurde, darf hier verständlicherweise nicht geschrieben werden.

 

Rigorose Pausenschlucke später setzt der „Rotarmist“ ein. Makarios fächert das Pratajev-Programm mit der Coolness eines Fakirs vom Gärtner bis zum allerletzten Akkord weit auf. Pichelstein randaliert, eskaliert auf der Erlenholzigen. Die Frisur sitzt und Applaus wirkt wie Traubenzucker, spornt zu Höchstleistungen an. Ob jetzt tatsächlich mit größtem Getöse getanzt wird, darf erneut aus Gründen nicht geschrieben werden.

 

 

 

Im Zugabeblock geht’s direkt an die Schnapsbar, die Spielzeit ist bereits überschritten. Am Merchstand ist der Andrang wuselig wie an der Theke, wo gewagte, kühne und kühle Destillate auf den Zungen zergehen. Ja, so endet die Party schlusshin für die Docs. Versehen mit dem Wunsch, alles Erlebte, das Konzert, alles Schöne in klare Träume mitzunehmen. Dafür bedarf es lediglich eines fußläufigen Marsches um die Ecke, wo das Hotel Ludwig van Beethoven Heimstatt wird.  

 

RUSSKAYA DISKOTEKA (439)

 

Tag 2 vor 2G. Im Zwickauer Merkur-Hotel frühstücken die Doctoren mit dem künftigen Upgrade-Ehrenmitglied der Pratajev-Gesellschaft, Danuta Molotova. Umgegeben von poliertem Holz mit Ausblick auf Spielbank an Sexshop. Sicherlich war das Merkur mal das beste Haus am Platz und genau dieses Gefühl kommt beim vierten Kaffee tatsächlich auf. Zum Abschied ruft der Herbergsvater ein Taxi retour Richtung Neubaugebiet. Sightseeing ist angesagt. Resümee: eigentlich eine schöne Stadt, so unfertig, teils brüchig. Mit chinesisch geprägten Investitionsruinen, aus denen blühende Birkenlandschaften himmelwärts wachsen.

 

Noch einmal ausstrecken, dann knattert das Tourauto gen Heimat zurück. Dachte man eben noch, bis das Finale einer packenden Landpartie mit Vollsperrung (weil Frontalzusammenstoß in Sichtweite) auf der Buckelpiste Richtung Borna jäh unterbrochen wird. Vielleicht hätte man doch die Autobahn nehmen sollen. Aber gut, dann wäre der Zufallsbesuch eines Biolädchens im (flächenmäßig durchaus möglichen) Herzogtum Groitzsch nicht zustande gekommen. Pichelstein interessiert sich für Möhren und Gurken, Makarios verlässt den Schuppen mit einer Tüte Allerlei. Am frühen Nachmittag ist Leipzig tatsächlich erreicht. Mittagsschlaf, Gitarren besaiten, so was halt.

 

Treffpunkt Schleußig: 17 Uhr. Die Doctoren dürfen mit einem Lächeln im Knopfloch heute noch mal auf die Bühne, auf das einzig Verlässliche, was zählt. Wenn eben nicht Corona wäre. Und weil Corona wieder mal wütet, fallen – um es vorweg zu nehmen – beide Konzerte am folgenden Wochenende in Dresden aus.

 

 

Auf zur Stippvisite in den Südstadt-Soziotop nach Connewitz, wo weinerliche Wellnessresistenzen mit Inhalten Abseits großer Graffiti-Lexika mauergetaggt sind. By the way: warum sprüht keiner: „Die Welt gehört Pratajev, wir dürfen bloß darin leben“? Kommen wir zum Anlass des Tages:   

 

Kons.tanze wird Schlag Mitternacht 41. „Ich mag lieber die ungeraden Zahlen und gern ein wildes Motto zum Geburtstag“ sagt sie, und trägt mit größter Sorgfalt dazu bei, dass mit einem knallroten Stern und einer Discokugel der Krause-Himmel heiß getüncht wird. Ja, richtig gelesen, der Krause-Himmel. Wo doch in diesem (wie im letzten C-Jahr) kein traditionelles Jahresabschlusskonzert stattfinden kann, ist es umso erquickender, doch noch der Frau Krause Hallo zu sagen. Dort, wo die Brücke von der Bühne zum Publikum stets über einen reißenden Wodkastrom führt, in dem man schon des Öfteren versank, aber stets wieder an Land gefischt wurde.

 

 

 

Pichelstein schleppt die Backline ins Warme, bastelt mit dem Techniker den Sound zurecht, während Makarios sich auf ein paar Worte der trinkfest am Glase verwachsenen Stammtischgesellschaft widmet. Wie immer geht es um die wichtigen Dinge im Leben, um Chemie Leipzig, den Roten Stern, um Eishockey natürlich, ums UT Connewitz. Pläne werden geschmiedet, als gäbe es kein Corona. Aber gut, die Seuche muss ja irgendwann vorbei sein. Zumindest derart vorbei sein, dass andere Sujets wieder in den Vordergrund rücken. Nein, kein Pimmel- oder Gendergate. Dinge, die noch wichtiger als Chemie Leipzig sind. Bezahlbare Wohnungen. Humanitäre Flüchtlingshilfe. Pflegenotstand. Facebooks Zuckerberg kauft nach George Orwell die Zukunft für einen (symbolischen) Bitcoin. Und zwar die gesamte. Nach Instagram-Nutzung ist mit dem Befall digitaler Chlamydien durch infizierte Influencerinnen zu rechnen. Korruption. Plastik im Fisch. Elon Musks Jünger zerstören durch einen einzigen Tweet ihres Tesla-Gottes an nur einem Handelstag die gesamte Weltwirtschaft. Ausweg: Mars voran. Und so weiter. All das, worüber man die Stirn wie ein gebürtiger Klingone in Falten ziehen kann. Nicht muss. Aber kann.

 

 

 

Schnitzel-Zeit! Noch eine wunderbare Krause-Tradition, die gerne im einen oder anderen Becherovka mündet. Satt und gespannt harren die bereits ge-soundcheckten Docs der Dinge; Kons.tanzes Gästereigen kulminiert gegen halb neun zur Vollzähligkeit; die Geschenkeecke biegt und verneigt sich. Russen-Look, was geht? Geschmackvoll gekleidete Menschen bestimmen das Bild. Zwar kann keiner der Inkasso-Igors und Natalja-Zarinnen vorm DJ-Pult Russen-Hocke, dafür werden alsbald gläserweise Bulbash-Flaschen geleert. Als hervorragende Antriebsfedern für einen gelungenen Abendauftakt. Los geht’s mit donnerndem Pratajevbewusstein. Der DJ schweigt, es tönen die Docs.  

 

Die Hermeneutik ist die Theorie der Interpretation von Texten und des Verstehens. Beim Verstehen verwendet der Mensch Symbole. Er ist in eine Welt von Zeichen und in eine Gemeinschaft eingebunden, die eine gemeinsame Sprache verwendet … So könnte man es philosophisch-pragmatisch erklären, was in gemeinsamer Tanz- und Singandacht in den nächsten Stunden geschieht.

 

 

 

Makarios führt meritenreich durchs Pratajev-Spiegelkabinett und als nach der ersten Pause immer wieder an der Schnapsbar gefragt wird: „Hat es Pratajev wirklich gegeben?“ darf als Replik süffisant geantwortet werden: „Aber natürlich, ja doch. Man sollte es für sich entscheiden, oder?“

 

Bis über die Zugaben hinaus gibt es kein Halten. Pichelsteins Finger stehen unter Feuer, mit großer Stimme löscht Makarios nach der letzten Schnapsbar. Gut soll es sein, sehr gut war es. Das nach Ladungen zünftigen Vodkas tosende Publikum lässt die Docs aus ihren Fängen und franst glücklich auseinander. Danke, liebe Kons.tanze! RUSSKAYA DISKOTEKA!

 

 

 

Bilder: Party/Kons.tanze     

 

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