Sissi! Franz! (454)

 

Schlauer darf man es nicht beschreiben: Faulheit ist der Nährboden jeder Effizienz. Alles andere im Leben folgt der Chaostheorie.

 

Eben noch bettfertig aufgewacht, probt Doc Pichelstein rasch alle möglichen Pratajev-Weisen, wuchtet die Backline ins Auto, kurvt von Detroitnitz-Reudnitz ins Inselparadies Schleußig, klingelt Doc Makarios herbei, schon geht es über den Plagwitzer Büroumweg zur Bockwurst stadtostauswärts. Immer vorbei an den in der Immobilienwerbung gepriesenen „stilprägenden, charmanten Ecken,“ die Leipzig zweifelsohne hat. Sofern sie noch wahrnehmbar sind, denn wenn man immer hier lebt, fallen einem höchstens neue Baustellen, der von Rheuma-Ronny und Krätze-Gabi frei entsorgte Sperrmüll oder Graffiti des Sonderschulkurses „Taggen für Anfänger“ auf. 

 

Die Raben rufen „Hrbst Hrbst“, Sonne und Sprühregen wechseln sich ab, das heutige Ziel der Preußen-Reise lautet Doberlug-Kirchhain, im Süden Brandenburgs gelegen. Anlass: Sandras 50. Geburtstag; Freundin Kerstin sorgte dafür, dass die Doctoren in die Spur gebracht wurden. Danke dafür! Eine Kiste Bulbash sollte auch mitkommen, doch Frank The Tank rief: „Lieferung aus Belarus nicht eingetroffen.“ Muss am Krieg liegen oder: irgendwas ist immer.  

 

Früher als geplant geht es an weiten Feldern, saftigen Wiesen und stillen Pilz-Wäldern vorbei. Grund sind allerlei Umleitungen. Vor Taucha ist kein Durchkommen, in Wurzen herrscht Amokfehlalarm. 

 

Am Arsch vorbei ist auch ein Weg. Bundesstraßen werden zu Landstraßen und Landstraßen zu Buckelpisten. Eine Autobahn Richtung Cottbus wäre eine großartige Idee gewesen, doch was soll’s? Das eigene Wohlbefinden wird zur Chefsache erklärt, an einem begrünten Bombenkrater mit Schnitzelbrötchen in Händen pausiert. Nahaufnahme plus Brachialromantik, Indian Summer! Man könnte jetzt auf Pilzjagd gehen, ein Körbchen wartet im Auto, doch nein. Weiter geht’s bis Doberlug erreicht und Kirchhain nicht mehr weit ist.

 

 

 

Check-in im Hotel Quartier Rautenstock. Traditionsreich, barocke Baukultur, historisches Ambiente. Imposante Kronleuchter, ewige Treppen, hinter Wandglas ausgestellte Plumpsklos, rote Teppichmeere. Da fühlt man sich gleich wie ein Preußenfriedrich-Sachsenaugust oder ruft von hoch oben: „Sissi!“ ins Atrium hinein. „Franz!“ kommt zur Antwort. So proben die Docs das alles im Stillen, bevor der Party-Shuttle eintrifft, die Backline verladen und Kirchhain erreicht ist.

 

Besser gesagt, die Straße „Am Krankenhaus,“ was gleichermaßen impliziert, dass es hier ein solches Etablissement gegeben haben muss. Wahrhaftig! Ein Lost Place, zuletzt als Pflegeheim genutzt. Doch da des Nachts ständig sehr junge Schwesternschülerinnen durchs Gebäude gruselten, ergriffen die Bewohner Mitte der 90er-Jahre die Flucht mindestens bis nach Falkenberg. Laut einer bisher nicht gesagten Sage eines Radiologen, der am Sender drehte.

 

Großes Hallo bei der Begrüßung, der Mr. Technik-DJ aus Lindena hat sein Bühnenaufbauwerk bereits vollendet, Heiko zapft, Sandra strahlt, erste Gäste wiegen Rümpfe. All das in einem wohlig-warmbeheizten Gartenzelt, das man sich wie eine Oktoberfest-Miniaturausgabe vorstellen darf. Herrlich! Auf zum Soundcheck, stimmungsgeladen wird die Bühne erreicht – und da besagter Technik-DJ den Doctors bestens bekannt ist, funktioniert alles wie am Schnürchen.

 

Ehe man sich versieht, hat Heiko die Doctoren-Gläser luftleer bekommen, werden erste Platten unterschrieben, wird hier und da erzählt, füllt sich das Zelt, liegt man in Strandstühlen zur Blauen Stunde. Denn, wie eingangs schon erwähnt: Faulheit ist der Nährboden jeder Effizienz - zumindest bis Sandra den Abend mittels kleiner Rede ans Partyvolk eröffnet und einzelne Gruppen und Grüppchen vorstellt.

 

Auf ans Buffet mit Gebrüll. Hmmm. Das hat es wahrlich in sich. Krönung: Blumenkohl mit Hackfleisch überbacken. Auch ansonsten: Food Porn für jeden schlaffen Heißsporn und süßen Nachtisch obendrauf.

 

 

 

Schwerer als bei Ankunft geht’s mithilfe mehrerer Kräuterschnäpse auf die Bühne. Ein langsames Lied muss her, ein passendes: „Schwermut im Herbst.“ Wie eh und je moderiert Doctor Makarios den Pratajev-Reigen ohne Setlist, spielt sich Pichelstein dazu ein Wölfchen zart bis rasend. Nach den ersten 10 Weisen folgt zum Geburtstag die goldecksche „Samtmarie“, zwei CDs werden Sandra überreicht, unvergällten Schnaps gibt es zurück.

 

Genau genommen  gibt es ab sofort immer einen Schnaps, wenn das Wort Schnaps vorkommt. Na gut, wer die Texte der Doctors kennt, der weiß, dass davon sehr häufig die gesungene Rede ist. Denn: nicht nur im Absurden kommt man mit der Wahrheit bei Pratajev am nächsten.

 

Pause nach 1,5 Stunden. Schwitzend wie zwei Otter, euphorisch und ein wenig ausgelaugt wird die Kühle der Nacht erreicht. Am Tisch steht das nimmermüde Kollektiv der Arbeitskolleginnen. Und da die Mehrzahl von ihnen in 30 Minuten einen Zug nach Nirgendwo erreichen muss, geht’s fix munter weiter im Programm.

 

 

 

Makarios lenkt die Pratajev-Mission Richtung Fetisch-Block. „Beim Bücken“ kulminiert zum Schlager-Knockdown. Als die erste Katze am Baum hängt, tanzt das Zelt. So geht es ins Grande Finale und noch ehe der Zugabenblock zum warmherzigen, applauslauten Wunschkonzert wird, gibt’s den allerletzten Bühnenschnaps. Eines ist sicher: wenn der nächste Morgen graut, werden nicht wenige Muskelkater dort haben, wo Sport gar nicht hinkommt.

 

Auf zum Heiko an die Schnapsbar, die Koffer ins Shuttle-Auto gewuchtet, „Sissi!“ und „Franz!“ im Rautenstock gerufen. Und für Doctor Pichelstein ein nächtliches Schaumbad. Danke für die Einladung! Es war uns ein Fest.  

 

 

Braungebrannt und unrasiert wird in Pirna einmarschiert (453)

 

Der Innbegriff von Holy Shit sind nach wie vor Staus. Auf der Hinfahrt zur Pirna-Hofnacht krümeln sich die Docs noch gut gelitten dran vorbei. Vorausgeschickt wollen wir von der umwegigen Rückfahrt am Sonntag gar nicht reden. Nur vielleicht davon, dass Struppen schöne, primär bergige Ecken hat. Eine Gemarkung, in der sogar die Doctors schon spielten und sich seinerzeit bereits verirrten. Lost Doctors in Struppen! Die über ellenlange Serpentinen-Pfade ins tschechische Travel Free-Paradies finden werden, sich eindecken, um anschließend die A4 und 14 großräumig zu meiden. Auf Buckelpisten, für die eigentlich ein Waldarbeiter-Fahrzeug vonnöten ist.

 

Ausgepackt wird in der Langen Straße 36, beim Melek Ulf, den es bald ins gelobte Land zieht. Da wollen wir mal schauen, ob sich abhängig oder unabhängig davon weitere Auftritte innerhalb dieses heiligen Pralinenschachtel-Rahmens realisieren lassen. Klar, Pralinenschachtel. Nie weiß man, was drin ist, was einen erwartet. Wer am nächsten Tag auf Krücken geht, mit Babyschnuller im Mund geweckt wird oder wer versehentlich betörende Keksmischungen intus hat, all das. Nachzulesen in vorvergangenen Tourbüchern der Russian Docs. Die Sage von der berühmten Lücke im Lebenslauf nach einem Pirna-Ausflug stammt nicht von ungefähr.   

 

 

 

Bereits bei Abreise lautete das von Mittagsschläfer Makarios ausgerufene Korpsgeistmotto: „Braungebrannt und unrasiert wird in Pirna einmarschiert.“ Gesagt, getan, alle begrüßt, geherzt, umarmt. Nach kurzweiligem Soundcheck, Technik-Doctor Füß sei Dank, lässt sich die Thekencrew nicht lumpen und reicht Kaltgetränke. Eines nach dem anderen; der Sommer zeigt sich von seiner besten Seite, blitzt-donnert-regnet nicht, der Durst hält ungebrochen an. Für Sachsens Wälder, für die Menschen.

 

Noch während Ulf koschere Soljanka überm Feuer zubereitet, füllt sich der Hof Lange Straße 36 mit großem Hallo. Die ersten Pratajev-Getreuen – erkennbar an klassischer Doctors-Garderobe – trudeln ein. Flugs wird der Preis für die weiteste Anreise nach Franken vergeben und ehe man sich versieht, platzt das Oval aus allen Nähten. Wie wunderbar! So! Ja! Und dass es eine besondere Ehre ist, von den Pirna-Gastgebern des letzten Wochenendes eine Kaffeebecher-Docs-Edition überreicht zu bekommen, setzt dem Treiben goldene Krönchen auf. Dankeschön, Ihr Lieben.

 

  

 

Sollte der erste Konzertteil eigentlich um halb neun beginnen, wird jetzt vorgezogen. Auf zum hochpoetischem Bühnensound unterm Birkenbaum, der beschnitten wird, damit Pratajevs Erben nicht hinterrücks von Ästen gepeitscht werden. Noch picobello die Aufziehpuppenmusikkonserve killen, dann hält der Wind den Atem an.  

 

Pichelsteins Flipperfinger rasen sogleich in bester Leichtigkeit übers Erlenholz, Makarios voluminöse Dunkelstimme versprüht Dramatik, Esprit - und alle, wie sie da sind, werden als Gefolge mit auf eine bald 1,5-stündige erste Doctors-Reise mitgenommen. Es gibt kein Entkommen. Weder beim „Lob des Schweines“ noch beim „Starken“, erst recht nicht bei „Wodka Wodka“.

 

 

 

Schnapslieder, so viel ist sicher, sind Balsam für die Ohren. Man möchte spontan innehalten und über das Leben sinnieren. Ach, wie ist das schön heute. So ein Tag ist das, sehr rührend, die Welt ein bisschen besser zu machen.  

 

Auch das blühendste Bühnenleben muss nach der „Heilung“ Energie tanken. Auf zur Schnapsbar, bloß ist der Weg dahin mit lauter Leibern verstellt. Also werden später Drinks gereicht, Pichelstein der Bulbash beim Spielen in den trockenen Schlund gekippt.

 

Da sind wir schon längst im zweiten Set, eröffnet mit dem „Rotarmisten“, von einer „Harten Wirtin“ regiert (inkl. Zauberrekord Doctor Speedy Pichelstein), von der „Zarten“, einer wahren Königin in der Pratajev-Poesie, veredelt. Lichter werden justiert, es dunkelt bereits. Angetrieben von Doctor Makarios wird mitgesungen, was das Zeug hält. Mit jedem Lied wird’s schöner. Erst der Katzen-, dann der Rattenchor, und da der „Biber“ heute in der Swing-Version gespielt wird, kann auch hier jeder beitragen.

 


 

Nach weiteren 1,5 Stunden der Ausuferung wünscht sich mancher Pratajev-Recke in kühle Tropfsteinhöhlen hinein. Es folgt der dritte Konzertblock, prall gefüllt mit Zugaben und Sonderwünschen. Natürlich kommt in Pirna „Als das Eis kam“ vor, dürfen der „Edle Mann“ und der „Raucher von Bolwerkow“ nicht fehlen. Auch nicht die „Löcher im Strumpf“ oder was noch alles.

 

Die letzte Schnapsbar ist schließlich ein Walzer und dann muss es gut sein für heute. Kaltgetränke schmecken, am Merchstand werden Platten und Bücher signiert, Pichelstein baut mit letzter Kraft die Bühne ab, schwankt treppab, pustet treppauf. Ende der Geschichte. Ein Doctor nach dem anderen gleitet ins Turmzimmerbett und fürchtet weder Tod noch Teufel.

 

 

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