Ein Kommen und Gehen, ein Bleiben, ein Sitzen, ein Stehen (461)

 

Alles vorm fünften Kaffee ist schlafwandeln, alles vor der ersten Tankstellen-Bockwurst keine echte Tour. Auf dem Weg nach Wittenberg lenkt Pichelstein den Sportgolf hernach durch den harschen Winterschneefall. Glücklicherweise ist Fürst Fedja heute mit an Bord, das sichert die Rückreise und verhindert ein sonntägliches Aufwachen im gebetsamen Erlebnispark der Lutherstadt.

 

Irrlichternd vorbei an zum Schluss Photovoltaik-gestählten Straßenzügen wird der Irish Harp Pub erreicht. Im Februar 2019 gastierten die Docs zuletzt hier, alle darüber hinaus angesetzten Konzerte fielen dem bösen C zum Opfer. Unfassbar.

 

Das harte Los der Verehrung gilt Chefwirt Jens. So viele Bars und Kneipen schlossen unter „Corona“ für immer (im Gegensatz zu sinnfreien Fitness-Studios). Die Zeit heilt manchmal eben gar nichts. Das Irish Harp in der Wittenberger Collegienstraße hat glücklicherweise weiterhin Bestand und ist nach wie vor eine der klügsten Anlaufstellen für Bier- und Whiskeyathleten der unmittelbaren Welt. Danke!

 

 

 

Die Aufgaben sind klar verteilt: Pichelstein baut die Bühne, Makarios den Merch, Impressario Fürst Fedja eine kleine Schnapsverkostungsanlage auf. Soll doch Jens überzeugt werden, das ein oder andere belebende Getränk ins Kneipensortiment zu nehmen. Ob das am Ende gelingt, wissen nur jene, die im Konzert-Bermuda späterhin als nicht vermisst gemeldet werden.

 

Freddy Fresh-Pizzen werden bestellt und erst kurz vor Entdeckung ferner Sonnensysteme von einer Figur aus Pinky und der Brain geliefert. Also: knapp bevor die APP mitteilt: „Ihre Bestellung befindet sich nicht mehr auf dem Lieferweg. Sie wurde vom Zusteller aufgegessen. Bitte hinterlassen Sie eine Bewertung.“

 

Am Ende der lecker abgespeisten Nahrungskette ist alles fein; betrauert wird nur, dass Pia und die Willy-Bande erstmals unpässlich sind. Schade! Wird es deshalb ein finsterer Abend werden? Nein!

 

 

 

Das Irish Harp platzt aus allen Nähten. Ein Kommen und Gehen, ein Bleiben, ein Sitzen, ein Stehen. Das Publikum steckt die Köpfe zusammen und schlürft eifrig Getränkekarten rauf und runter. Noch rasch zwei letzte Draußen-Kippchen mit Grüßen vom Schüttelfrost rauchen, dann ist Showtime. Der Pichelinator stöpselt die Drahtharfe ein, Doc Makarios ringt sich ein letztes Räuspern ab, los geht’s: „Da hält der Wind den Atem an.“

 

Gepflegtes Ausrasten ist die Folge. Mit Beinen, Füßen, Händen wird - wie in einem trampolinierten Vorgarten - gewippt bis leicht gehüpft. Tja, vor allem erstmals Lieder und Texte Pratajevs zu hören, ist schon eine gewisse Sternstunde des Irrsinns. Da bleibt kein Auge, kein Glasboden lange trocken. Vor allem im Fetisch-Block, der besonders in Wittenberg wie immer frenetisch gefeiert wird.

 

Pause, hin zur Schnapsbar. Fühlt sich an wie ein Chat mit 1.000 tollen Emojis in einer Zeit voller Dunkelziffertage.

 

 

 

In Boosterlaune geht’s nach 17,5 brandenburgischen Minuten weiter. „Der Rotarmist“ wird aus dem Keller gelockt, Fürst Fedja versorgt die Docs mit leckerem Gesöff. Die Erlebniszellen sind aktiviert, Makarios nimmt das Pub mit auf Pratajevs wilde Gefolge-Reise (von der „Zarten“ über den „Gärtner“ bis zum „Wanderer“) und landet nach brillierenden Tierliedern schließlich erneut im Hafen der nächsten Schnapsbar.

 

Eigentlich will man von der Bühne sinken, denn gehen geht nicht mehr so gut. Doch die imaginäre Tanzfläche ruft nach Zugaben und wird erhört. Einer „Tasche“ folgen „Löcher im Strumpf“, folgt „Der Raucher von Bolwerkow“ und vieles mehr. Es ist zum Niederknien! Doch dann muss Schluss sein. Der Schnapsbar-Walzer setzt dem Treiben gerne rotzefoll ein Ende. Ein Run an die frische Luft setzt ein. Draußen ist gut rauchen. Und damit sich Balken nicht biegen, ist der Großteil der westlichen Welt eben auf Steinen gebaut.    

 

 

M wie MKruppe und Mbappé (460)

 

Dem Winter wird weiterhin die Stirn geboten. Draußen ist Wetter, so sexy wie Puddinghaut. Drinnen ist’s schöner, hier lässt es sich beim Schnapse auftauen. Steht doch die Eröffnung der 20. Doctors-Festspielsaison unmittelbar bevor. Und wo? Natürlich in der Stallwache, in Leipzig-Plagwitz. Wo die Menschen, behütet von beuligen Dächern, ihrer Tage fristen. Wo die Gürtellinie unterm Hals beginnt. Wo ein Stadtteil graubunte Deko für immatrikulierte Kaffeetrinker mit Blattsalat im Beutel ist.

 

Angekündigt ist der Abend als Bulbash Masters Special. Das hat einen Grund. Es gibt einen Stargast, einen Pratajev-Lesenden mit Vortrag und eigener Bühne. Nicht Mbappé, Sohn des Wilfried Mbappé, französischer Fußballgott, nein viel besser: MKruppe. Man spricht es ohne Punkt und Bindestrich aus. Aber mit viel Ausrufezeichen.

 

Mittlerweile hat Doc Pichelstein das neue Toursportauto strafzettelfrei geparkt, Pizzen mit je sechs sagenhaften Salamischeiben sind bestellt, die Bühnenecke ist beräumt.

 

 

 

Da neulich böse eingebrochen wurde, muss improvisiert werden. Das Diebespack klaute u.a. ein paar Boxen. Ohne ans Mischpult und an die Endstufe zu denken. Impressario Frank The Tank lieh sich darob ergänzendes Equipment aus, das erst einmal aus der Not heraus gekoppelt werden will. MKruppe, MMakarios, MPichelstein geben ihr Bestes. Ersterer ist es schließlich, der den MGyver-Pott für maximales Gelingen und Erfindungsreichtum bekommt. MFrankTheTank klatscht (beim Befüllen diverser Wodkabretter) in die Hände. Es folgt ein Soundcheck, der sich nach wenigen Minuten hübsch wie ein Kugelfisch aufbläst. Alles paletti. Ran an die Pizzen, an die Bar, wo MSchmo bereits in schöner Regelmäßigkeit das maximale Durchdrehmoment in Sachen Cocktails auslebt.

 

 

 

Fehlt nur noch einer. Jasper Fryth, musikalischer wie figürlicher Experimentier-Direktor in Sachen Öl, Acryl, Leinwand. Seit der letzten Doctors-Platte ist er aus dem Pratajev-Universum nicht mehr wegzudenken. Was bietet sich heute an? Eine Bilderauktion, moderiert von MKruppe, was Jasper Fryth zu MFryth kulminieren lässt. Aber nur noch in diesem Absatz, dann heißen alle wieder, wie sie heißen. Außer MKruppe und Mbappé.

 

 

 

Wo ein Wille ist, darf kein Sofa sein. Die Stallwache ist propper gefüllt, was an der Schnapsbar gut und lecker aussieht, bleibt nicht lange unprobiert. Auf geht’s; Doc Makarios salbt die Gemüter mit Wortspenden, Saitenkrieger Pichelstein zählt 1,2,3,4: „Da hält der Wind den Atem an.“ Anschließend: Großer Jubel, Übergabe des Staffelstabs an MKruppe. Das Leben und Wirken Pratajevs als Hilfszahnart, Hobby-Orthopäde und großer wodkatrinkender (statt wasserpredigender) Poet steht im Fokus. MKruppe erfüllt den Job mit Leidenschaft, brilliert in Lyrik und Prosa, die Stallwache kocht.

 

Schon fliegt der Staffelstab zurück in den Musikbereich, die Docs nehmen ihn dankbar auf. Es geht ans Eingemachte, um die Hits aus dem Miloproschenskoje der 50-60er-Jahre, aufgepeppt u.a. mit der Bulbash-Hymne. Tief schürft fortan wieder MKruppe in Pratajevs Schatzkiste - und so geht es eine Stunde lang hin und her, bis eine große Pausen-Durstwolke zur Schnapsbar zwingt.

 

 

 

Im zweiten Block gibt’s die pratajevsche Jasper Fryth-Bilderauktion. In schöner Regelmäßigkeit hagelt es Höchstgebote, die Docs präsentieren, MKruppe schwingt den Auktionshammer und der Zeitstau der Ereignisse führt am Ende direkt zur „Harten Wirtin,“ zum gefeierten Fetischblock, in dem Pichelsteins Gitarrenplektrum restlos pulverisiert wird.

 

 

 

Bis zum Aufbäumen vorm Schlussakkord, einem Innehalten und Abgang, ist es letzthin nicht mehr weit. Reichlich verschwitzt teilen sich die Docs das Bühnenhandtuch, während MKruppe den Elektrolythaushalt mit emsiger Zufuhr von Gerstensaft reguliert. Im Zugabeblock erklingt (wie immer in der Stallwache) „Der Raucher von Bolwerkow“, wird die „Alte Henne“ verdroschen und vieles mehr. In den Ohren bleibt zum Schluss ein Walzer, ein Schnapsbar-Walzer, Doctor Pichelstein ist schließlich auch Walzerkönig.

 

Und so walzt der Abend gemütlich vor sich hin - mit großem Dank ans Publikum. Platten, Plakate werden signiert, die mitgeführten Ausgaben der Pratajev-Bibliothek sind rasch ausverkauft. So wünscht man sich das, seufzt längerfristig glücklich vor sich hin, und lebt die innere Katze aus. Erst streunen, dann pennen. Lange. In einer Welt ohne Uhren mit immer vollem Napf.     

 

 

Alle Bilder: Danke an der.pasemann

 

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