Rollmopswasser mit Fassbrause (465)

 

Sommer, Sonne, Sonnenschein. Heißa und juchhe, nun geht es an den See. Falsch! Es gewittert in der Ferne und tröpfelt bitte gerne. Scheibenwischer surren, Bäuche knurren (Was kann schon ein McGrimma-Cheeseburger ausrichten?). Auf ins Elbsandsteingebirge, nichts reimt sich auf Gebirge. Oder?

 

Das Ziel ist heute undeutlicher denn je. „50° 58' 39.6“N 13° 58' 47.5" E“ lauten die ins Navi übertragenen Koordinaten und da kein Error angezeigt wird, muss es diesen Ort irgendwo geben.

 

An der heute staufrei mit Bravour gelösten Schnittstelle A14/A4 haben die autorasenden Docs das Gewitter abgehängt. Weiter geht’s über die 17 bis zur Abfahrt Pirna und schließlich, bei Lohmen, in den tiefen Wald hinein. Militante Kamikaze-Radfahrer, hechelnde Wandergruppen hinter jeder Kurve, auf kleinstem Raum. Wirklich befremdlich, das selbstmörderisch anmutende Freizeitverhalten mancher Menschen. Glücklicherweise rüpelt niemand. Außer das Navi. Denn das erklärt soeben: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Mitten im Wald.

 

 

 

Lösung leuchtet an einen Baum gepinnt von Ferne. Was steht auf diesem klugen Zettel? „Steffens 50. Geburtstag“, Pfeil gemalt nach links. Pichelstein biegt ab. Und nochmal. Ziel erreicht, Docs durchgeschwitzt und da, im oder am Lohmener HL6-Steinbruch. Jetzt: Motor ausstellen, Steffen, Gattin und Crew begrüßen. Wie wunderbar.

 

An der rollenden Schenke, beim ersten Altpieschener Dunkel, gleich mal schockverliebt in die Natur und lyrisch dran geschnuppert. Während Felsenziegen unterm Sonnenzelt meckern. Ja, das Leben ist irgendwie auch wie ein Steinbruch. Mal kommt gutes, mal schlechtes draus hervor. Idee für einen poetisch veredelten Rammstein-Text: „Herz und Steinbruch“, dann irgendwas mit „in den Weltuntergang reiten“. Apropos: Am selben Ort, in wenigen Tagen: Rammstein-Cover-Band am Start. Mit Row Zero oder oben ohne. Teuflisches mit himmlischem aufwiegen. Hauptsache, es knallt.

 

 

 

Soweit sind die Docs noch nicht. Mit Beauty and Beast wird die Bühnenecke hergerichtet, der Soundcheck hochgefahren, und da die Anlage glücklicherweise ohne KI betrieben wird, lässt sich alles bestens lösen. Altpieschener Dunkel! Ende der Unterhopfung! Der Wirt ist ein wahrer Held der Arbeit und entdeckt leere Gläser gar von Ferne. Oder mit dem Fernrohr. „Ich mach dich kalt“, raunt er zum Schnaps.

 

Immer wieder Blicke ins tolle Ambiente. Stühle, Tische und ein Grill, reimt sich auf Gemütlichkeitsoverkill. Doctoren sitzen im Schatten, im Energiesparmodus. Schon füllt sich der Ort, tragen erste Gäste Buffet-Teller durch die Gegend. Die Docs lassen sich nicht lange bitten und starten mit Feuerstelle-Chili con Carne-Kellen als Vorspeise. Zum Mittelgang werden Kartoffelsuppen, Bratwürde, Salate aller Art gewählt, den Nachtisch gibt’s später. Sonst wird der eigentliche Grund der Anreise mächtig ins Hintertreffen geraten. Schließlich gibt es noch ein Konzert zu spielen.

 

Gesagt, getan. „Da hält der Wind den Atem an.“ Doctor Makarios, in seiner Funktion als Gravitationszentrum des Pratajev-Universums, führt durchs stets nicht festgelegte Set. Erstes Echo-Schmunzeln breitet sich aus, Pichelsteins Finger rasen über Stahlsaiten und sobald das Wort „Schnaps“ vorkommt, wird einer zur Bühne gereicht. In Portweingläsern, die selbst Pichelstein nur langsam zu bewältigen vermag. Rotschwänzchenbabys krakeelen aus dem Dachnest, Mücken stechen, schon bald wird die Blaue Stunde eingefangen und Euphorie zur wilden Weltmeister-Melodie.

 


 

Eine Stunde plus 15 Minuten dauert der erste Konzertblock, der nächste naht und startet mit dem „Baffen“. Makarios lenkt die Gesellschaft ins Pratajev-Gefolge. Dabei auch diesmal: „Der Gärtner“, Pauls Lieblingslied. Der lächelt fein und wissend, klar, als Sohn vom Gastgeber.

 

Im Rund wird bis zur nächsten Schnapsbar getanzt, die meisten Lieblingshits sind gespielt. Doch bevor es an die Feuerschale geht, folgt der de Luxe-Teil, der lautstark geforderte Zugabeblock beginnt. Es soll um „Löcher im Strumpf“ gehen, um eine „Tasche“, um eine „Zarte“ und vieles mehr. Bis Pichelstein den letzten Akkord für heute durchbringt und zwingend an die Bar, an die rollende Schenke muss, wo der Wirt bereits ein Altpieschener Dunkel ins Reine gegossen hat. Ende Gelände. Der Lotse holt die Flagge ein.

 

Sitzen. Schnaufen. Der Shuttle-Service gen Pension „Zur alten Säge“ (ins Dorf Wehlen, nicht in die Stadt Wehlen, das sind himmelweite Unterschiede) scharrt mit den Keilriemen. Noch ein bisschen russische Kultur leben: „Auf den Weg trinken“ wird streng und mehrfach eingehalten. Dann los. Waschbären retten sich ins Unterholz und am nächsten Tag wird Rollmopswasser mit Fassbrause zur Heilung deklariert.

 

 

 

Bilddanke: Nadine Rudi

 

Nur Enten freuen sich über Wasser und Brot, Musiker nicht (464)

 

Wow, Sonne. Die Gesternwelt ist abbestellt. Womit nicht die immerwährende, schlimmste Medien-Panikmache seit den Gebrüdern Grimm gemeint ist. Nein, ein durchfeuchtetes Leipzig atmet auf. Liebe und Zuneigung ziehen in die Gesichter der Menschen ein; das vor Wochen wetterbedingt verschobene erste Open Air der Doctors-Saison kann starten. Im Biergarten der Frau Krause Pratajev-Arien schmettern. Was gibt es Schöneres auf der musikalisch-literarischen Superspreader-Landkarte?

 

 

 

Während Makarios und Pichelstein die Backline zur Bühne wuppen, trägt der Connewitzer Gemütlichkeitsoverkill bereits Früchte. Volle Gläser und Teller, Gäste davor und dahinter, Frank Zappas Weisheit „Tabak ist mein Lieblingsgemüse“ beherzigend. Nirgends uniformierte Bürgerkinder mit Kopfdisco-Palmen, Siegelringen und Lacoste-Shirts in Sichtweite, na gottseidank. 

 

Erste Pratajev-Dudes aus nah, aus fern lassen sich nicht lumpen, fangen die Frühlingssonne beim Schluckzähler-Training ein. Sogar die Mauersegler sind zurück. Manager Franky Förster, heute barverhinderter Stallwachen-Don, würde mit vorauseilendem Pessimismus-Reflex rufen: „Mauersegler da, Sommer vorbei!“ Übrigens: In der Sprache der Lindenauer Ureinwohner steht sein Name für „Der herrlich aus der Hose fällt und dabei einen Zahn verliert“, weshalb wir ihn einst in Frank „The Tank“ umbenannten. Passt gewissentlich besser.

 

 

 

Der Techniker hat glänzende Vorarbeit geleistet, rote Teppiche sind zum Soundcheck gelegt. Wofür so ein Tippkonzert auf dem Mischer-Tablet alles gut ist. Wenn man es beherrscht. Das ist der Fall. Doc Pichelstein zitiert Hannibal vom A-Team: „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert“, schwingt sich einen Gitarren-Hobel um den Hals. Makarios‘ Sanges-Euphorie wird zur wilden Melodie und der Beifall ist bereits jetzt groß. Wobei den meisten schon klar ist, dass die Docs im Soundcheck selten das spielen, was im Konzert vorkommt. „Die schöne Welt“ oder „Mich wundert gar nichts mehr.“ Nur zwei Beispiele, dank König Peter folgen zwei Wodka Bulbash. Sie knarrt, die Schnapsbar, flüstert leise. Ja, hier steht man gerne.   

 

Ein gutes Pferd springt knapp. Traditionell folgt der Frau Krause-Schmaus kurz bevor's losgeht. Pichelsteins Krafttier ist das Schnitzel, Makarios schwört auf Ragout Fin nach DDR-Rezept. Äußerst lecker abgespeist, gepflegte Konversationen später, hält der Wind den Atem an, stehen sich die Menschen in den Schuhen.

 

Glücklich steht ihnen gut. Laut auch. Die erste Sternstunde des Pratajev-Irrsinns beginnt. Angekommen bei der "Schönen aus der Stadt" liegt bereits ein Flirren in den Köpfen, spontane Paarungstänze sind im "Starken" Thema. Kein Wunder bei Pichelsteins emsigen Gitarren-Obsessionen. Wodka Bulbash wird zur Bühne getragen und zeigt Wirkung. Doping halt. Merke: Nur Enten freuen sich über Wasser und Brot, Musiker nicht.

 

 

Wer schrieb das einst? "Begehe die Nacht nicht einsam / Sieh zu, dass du Herz gewinnst." Pratajev? Pichelstein? M. Kruppe? Makarios? Hölderlin? Passt heute umso schöner. Doc M. bringt Pratajevs Wirken näher. Es darf gekocht werden. Mit einem "Löffel aus Holz". Erste Menschen im Rund verfallen dem Miloproschenskoje-Syndrom, das zügellose Wünsche nach gebackenen Katzen und natürlich Wodka zur Folge haben kann.

 

Damit die um sich greifende Ausgelassenheit nicht verdurstet, wird zur Pause gerufen, nein, gesungen. "Hier hab ich gelegen ..."  Und alle wissen: Auf der Krause liegt ewiger Segen. Gewiss ohne Bergquellwasser in der Vollmondabfüllung.

 

 

Weiter geht's. Mit Inbrunst. Wurde doch der Fetisch-Block vor 12,8 Pausenminuten zerschnitten. "Der Baffe" richtet alle wieder auf. Adrenalin fließt ins Blut, in kleinen und größeren Schlucken. Die Doctoren fallen beinahe übereinander, so schnell jagt Gitarren-Oktopussy Pichelstein Pratajevs Wandergesellschaft durchs Land. Viele müssen mit. Etwa: "Der Faule", "Der Satte", "Der Wanderer", "Die Schwimmerin", "Der Käferzähler", "Die Zarte" und natürlich "Der Gärtner" - allesamt große Helden auf der Klaviatur des Doctoren-Universums.

 

Die Uhr tickt. Punkt 22:00 Uhr muss Schluss sein. Wegen des einen Nachbarn, der bereits die 11 von 110 ins Telefon tickert. Die deutsche Eishockeynationalmannschaft hat Österreich besiegt, Pichelstein wird's beim nächsten Bulbash-zur-Bühne gesteckt. Innerer Jubel. Äußerer Speed.

 

Eishockey ist wie Schnellgitarre spielen. Du darfst nicht wissen, wo der Puck ist, sondern wo der Puck sein wird. Sprich: wo die Finger auf dem Brett sein werden, wenn sie noch woanders sind. Das ist der ganze Trick. Nie nachdenken, nur spielen und in den kurzen Liedpausen die Stimmgeräte nicht vernachlässigen. Das am Boden liegende treten, das eigene kräftig ölen.  

 

21:59 Uhr. Der Nachbar drückt die Null. Doch das bringt heute nichts. Makarios zieht alle Stecker und so spielen die Docs ganz leise, ganz weise eine letzte Ode an die Schnapsbar. Das war's für heute bis zum nächsten Mal. Mit Schnaps in der Blase, Sonne im Herzen.

 

Als die Docs Stunden später ins Taxi steigen, hat die Nacht die Sterne schön und Cinderella einen Schlappen verloren. Oder ein Handy. Von hinten schleichen sich Kater an, werden zu körpereigenen Gästen. Ein Umstand, der sich erst am folgenden Morgen als leichter Nachteil erweisen wird. 

 

 

Fotodank: Frau Ast, Frau Singrobär, Paschka Parlierowna

 

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