tour_tagebuch
Himmelfahrtskommando (488)
Endlich wieder Vatertag, zugleich Brückentag, einer der Tage im Jahr, an denen frei nach Harald Juhnke auch die Amateure saufen. Wie immer kalendarisch an einem Donnerstag, fünf Wochen nach Ostern, zehn Tage vor Pfingsten verortet. Mit viel christlichem Hintergrund. Jesus, zumindest post mortem ein recht beliebter Sektenführer, war vor mehr als 2.000 Jahren als Himmelfahrtskommando aufgestiegen, heim ins Reich, ins Himmelreich. Der Schluss liegt nahe, dass der Vatertag somit auf den Vater aller Väter, Gott selbst, bezogen sein muss, was viele als Humbug und reine Spekulation betrachten - so soll es ja auch gerne sein.
Auch heute benehmen sich sehr viele Menschen so, als seien sie von Gott in irgendeiner Form, für irgendeine Mission auserwählt worden. Denken wollen wir sogleich an Politiker, weiße Kittelmediziner, kombiniert mit dem Zeigefinger eines Eckart von Hirschhausen. Fernerhin an wie eine alte Schulbank bekritzelte, sprich: tätowierte Fußballer, ähnlich aussehende Musiker auf dem Halskettengebiet des goldenen Zuhälterghetto-Hip-Hop, an TikTok-Rapperinnen, ausgestattet mit Fingernägeln des Todes.
Um die geht es allesamt heute nicht. Eher um Väter und Männer, die mit ihren Kumpels um die Häuser ziehen. Manchmal sind auch Frauen dabei. Und natürlich um Pratajevs Erben, denn die Russian Doctors wurden für den heutigen Nachmittag von Christian, dem honorigen Chefwirt des Café Saale-Kiez, gelegen in Wettin-Löbejün, OT Brachwitz, zwecks Gartenkonzert gebucht. Das erste Open Air des Jahres und oh Wunder, der nicht personifizierte Wettergott spielt prächtig mit.
Mittags geht die Reise im gewohnt unbekümmerten Outfit los; Doctor Makarios wird gleich hinter Leipzig vom ersten Hustenreiz durchgeschüttelt. Ja, die (knapp unterbrochene) Die Art-Tour mit den Freuden der Italienischen Oper kostet Körner. Immerhin hat das Grippefieber den Doc verlassen, übrig bleibt ein Rest vom Virenfest. Pichelstein spendet Trost und Kaugummi, muss sich aber ansonsten dem Verkehr widmen. Am Tag der Bollerwagen, trunkenen Radfahrer, am Tag der anhängerreichen Trecker, aus denen grölender Malle-Sound schallt.
Gegen 14 Uhr ist der Café-Garten, ein herrlicher Ausflugsort am Saale-Radweg, mit Absprungmöglichkeit direkt in den Fluss, erreicht, wird Christian geherzt, der den Konzertrohbau fast im Alleingang auf sich nahm. Doc Pichelstein muss nur noch ein bisschen Backline aufladen, Gitarren in Ständer hieven und kann sich, so wie er’s mag, am ersten Gezapften laben. Doc Makarios schlürft derweil Honigtee, gut für die vom Husten ramponierte Stimme. Zum Soundcheck wird dann aber doch destillierter Geist gereicht.
Der Bühne, unter reich belaubten Kastanienbäumen angelegt, wird noch ein bisschen Pause - inkl. Playlistbeschallung - gegönnt. Das Kiez-Oval füllt sich; schon jetzt haben erste Gläser Schlagseite wie mancher im Publikum. Erdhockend, an Tischen, Bierbänken, an der schönen, grünen Saale-Wiese und davorsitzend, so wartet man geduldig, wie es sich gehört. Vor allem auf Doctor Pichelstein, der genüsslich ein Schnitzelbrötchen niederringt.
Finger abgeputzt, los geht’s mit dem Wind, der den Atem anhält über idyllische Felder, zur Schönen aus der Stadt, zum Turmrundblick mit viel Wodka im Gepäck. Das Publikum hört Doc Pichelstein auf die Finger, der einen satten Mix aus Orkan, Ruhe, Chaos, insgesamt: Gitarrenglück beschert. Begeisterungsstürme im Dezibelgrenzbereich sind spätestens zur Mitte des ersten Sets die angenehme Folge. Makarios ölt darunter fleißig geschwächte Stimmbänder und der flüssigen Kultur auf der Spur folgend, werden Plastikbecher hochprozentigen Inhalts zur Bühne tablettiert. Danke!
Weiter jagen Finger durch die Saiten, unterbrochen nur von einer 15-minütigen Verschnaufpause. Pratajevs aberwitziges Leben, seine Naturwürde strahlt auf alle ab. Glückliche wie gegessene Tiere werden nach einer Gefolge-Wanderung Thema. Ja, wer an Pratajevs Wirken kein Herz verliert, hat eh kein Herz zu verlieren. Und so geht es nach der dritten Schnapsbar, im letzten Zugabeblock, noch einmal um die Veterinäre, den letzten Schluck, dann muss es gut sein. Die Großmeister sind fertig. Doc Pichelstein legt die Holzschwert-Gitarre beiseite, Doc Makarios schleppt sich wie Tiny Tim in der Muppets Weihnachtsgeschichte in den Schatten. Kuchen wird gereicht, der leckerste Mohnkuchen, den man sich vorstellen kann. Dazu kühles Bier statt Kaffee.
Stunden später wird aus Siegurd Westernhagen in Theo gegen den Rest der Welt, werden imaginäre Podcast-Folgen aufgenommen, leert sich das Gelände unter den Augen eines zufriedenen Kiez-Chefs Christian, verabschieden sich die Docs, vermisst von Hund und Katz, auf eine erholsame Nacht in den herrlich restaurierten Pensionsräumen im Flair des 19. Jahrhunderts.
Nacktschnecken (487)
Das imposante martas Hotel Lutherstadt Wittenberg liegt in der historischen Altstadt und hat allein deshalb fünf Sterne verdient. Schön ist es schließlich immer, wenn die Wege zwischen Tourauto, Veranstaltungsort und Übernachtung einfach, rasch zu erreichen sind. Berliner Verhältnisse wollen wir dabei ausschließen. In der Hauptstadt ist alles „um die Ecke“, was gerne bis zu 20 Kilometer Entfernung bedeuten kann.
Im Lob- und Meckerfeld der Hotel-Bewertungsskalen überwiegt ersteres; nachteilig wird erwähnt, dass keine Minibar die Zimmer ziert, Steckdosen auf jeder Seite des Bettes angebracht gehören. Dies, um medizinisches Gerät anzuschließen. Na Hallo. Welches denn genau? Schnarchmaskenapparte? Perfusoren? Ein Herzmassagegerät für Laien? Dildos? Laufen die nicht mit Akku? Vermisst werden eigentlich nur fesselnde, knebelnde Schubladenbücher mit Lebenshilfetipps Pratajevs. Dort, wo die Bibeln liegen.
Über all das sinnierend geht’s für die Docs runter zum Frühstücksbuffet, später an die kalt-windige Frischluft, wo Pichelstein die ChatGPT-App mit Fragen füttert. „War Luther böse?“ – Zur Antwort kommt ungefähr dieses: „Ja, ein wenig schon. Juden mochte er nicht, am Dreißigjährigen Krieg, der das Land spaltete, verrohrte und über Jahrhunderte lähmte, hatte er durchaus Aktien. Zum Wohl der Zivilisation.“ Menschenrechte haben halt ihren Preis. Da kann man die Stirn noch so sehr in Dackelfalten legen.
Weitaus interessanter antwortet ChatGPT auf die Frage: „Wo wurde Makarios Oley geboren?“ Die Antwort ist so falsch, wie sie nur sein kann: „In Grimma.“ – „So ein Unsinn“, empört sich der falschbeleumundete Doc M. „Leipzig“ wäre die richtige Antwort gewesen. Letzte Challenge: „Wo gibt es den besten Rum in Rostock?“ Antwort: „Besuchen Sie die jeweiligen Websites der Stadt.“ Das wollen die Docs überhaupt nicht tun, stapfen zum Auto und fahren los. Nach, ja richtig, Rostock, zum Hafenkontor.
Dass Autoraser den Frieden nicht im Schilde führen, wird ein ums andere Mal klar. Angst, Wut, Ungeduld – die emotionalen Ausläufer des stürmischen, menschlichen Innenlebens werden bestens wo zur Schau gestellt? Auf einer Bundesautobahn. Nicht an der Raste Linum-Nord, wo es im McDonalds wirr und quakig zugeht. Wo im Labor ausgeheckte Essensverbrechen feilgeboten werden. Und, das ist das perfide daran, auch noch schmecken. Nicht immer, aber heute. Auf Tour geht alles. Bloß, dass die Sanifair-Verbrecherbande auch in Linum-Nord ihr 1-Euro-Unwesen treibt, schmälert den Genuss. Früher konnte man ja wenigstens die Gegenwert-Coupons gegen Genusswaren des minütlichen Bedarfs tauschen, und zwar so viele, wie man gesammelt hatte. Heute wird nur noch einer angenommen. Für zum Beispiel Kaugummis, die dreimal so viel wie in der Kaufhalle kosten.
Ein letzter Stau, in wartender Akzeptanz verbracht, liegt hinter den Erben Pratajevs. Bis die Unterkunft, das Hotel Sportforum an der Kopernikusstraße, mit Blick auf die ehrwürdige Eishalle und aufs Hansa-Stadion, erreicht ist.
Nachdem eine Fußballmädchenmannschaft (alle so um die 15) eingecheckt hat (zwei männliche Trainer um die 30: nicht zu beneiden), geht’s nach ein paar Kugelschreiberstrichen per Aufzug auf die Zimmer. Einmal volltanken in der Schlaftankstelle, der Abend wird hart genug.
Zwei Stunden später steht der Tourgolf vorm Hafenkontor. Treten die Docs, gewandet wie zwei schwarzgekleidete Action-Figuren aus der Mattel-Familie, ins heilige Rumreich. Tja, ChatGPT-App. Da guckste. Maestro Frank „Mr. Kuba“ Schollenberger wird sogleich geherzt, Hafenbräu an der Schnapsbar ausgeschenkt, Rostocks frivolster Ostseerock-Bühnentechniker ist bereits im Flow, versprüht eine Prise Action, bittet wohlmeinend zum Soundcheck. Sehr gerne geschehen.
Techniker, die nicht versuchen, Albert Einstein zu widerlegen, sind eben die Besten. Eine deftige Klöpschen-Suppe, Salate, Brote und Kaltgetränke gibt’s als Lohn, Lothar von den Ölmützen steht im Saal; noch wenige Minuten sind’s bis die Tür sich öffnet. Darauf zwei Rum-Tonic, das Hafenkontor füllt sich, draußen möchte niemand mehr frieren.
Pichelstein sinniert im Backstage, Makarios wirft sich unters Volk, beide treffen sich rauchend wieder. Gibt viel zu erzählen, schön, dass die meisten vom letzten Jahr, aus den Ostsee-Konzertjahren zuvor, wieder an Deck sind. Da kann nichts schiefgehen, das Intro läuft bereits. Mit unverwechselbar warmer Stimme legt Makarios los, Pichelstein drischt in die Stahlsaiten. „Da hält der Wind den Atem an!“
Es wird ein wunderbares Konzert, ein lautes, ein Tagschönmach-Abend nimmt Gestalt an. An der Bar raunt der Keller zum Schnaps: „Ich mach dich kalt.“ So als Idee, vielleicht raunt er was völlig anderes, trägt aber streng dafür Sorge, dass die Docs auf der Bühne nicht verdursten.
Tablett um Tablett erreicht den Mittelpunkt des Hafenkontors, wenn nicht gleich der Welt, um es mit Element of Crime zu sagen. Die Docs segeln durchs Set, nehmen zwischendurch Wünsche auf, im Gegenzug muss mitgesungen werden, was bestens gelingt. Schweißnass geht’s vom Ring in die Pause-Sause, nach draußen, wieder nach drinnen, ins Backstage, auf die Bühne.
„Der Baffe“ wird sich vorgeknöpft, leitet den Fetisch-Block ein. Mittenmang folgt ein kleines Sitzkonzert, wie neulich in Dresden erdacht. Um dann, mit vollsten Kräften das Tempo anzuziehen. Beim „Biber“ gilt kein Tempolimit mehr – und danach (oh was?) sollen die Docs ein Lied über Nacktschnecken vortragen. Über böse, allesfressende Nacktschnecken.
Der Gedanke ist sehr gut. Vielleicht gibt es bereits eine Pratajev-Lyrik darüber. Mit dem Einwand, das mal zu beforschen, hämmert der Taktstock weiter, wird vor der Bühne stanz-getanzt, selbst Pirouetten sind zu sehen. Und eine Schnapsbar. Verfolgt von einem ersten Zugabeblock, der zur nächsten Schnapsbar führt. Bis irgendwann das scharfe Schwert Abschied niederrasselt. Gäbe es einen Bühnenvorhang, würde es von diesem Sternenstaub regnen. Danke, liebe Seemenschen, danke lieber Mr. Kuba.
Bilder: Frank Schollenberger