In jedem Mann steckt ein Don Juan. Oder:

Italienischer Prosecco, der in Gera vom Laster fiel (428)

 

Der vierte Kaffee kickt in LE-Detroitnitz Reudnitz. Ein rarer, fremdbestimmter Corona-Konzertkalender fordert ein ums andere Mal: alles auf der Gitarre trockenproben, denn nie weiß Solitär Doctor Pichelstein, was gespielt und gefordert werden wird. Eine verlässliche Setlist besaßen die Doctors nur zu Anfang, was schlussendlich im positiven Sinne dazu führt, rund 70 machbare Lieder aufführen zu können. Dass die Proben allerdings unter künstlichen Bedingungen (mit Kaffee) vonstattengehen (nicht mit Wodka) verfälscht die Lage jedoch deutlich.

 

Da sich Frank the Tank rarmacht und in der Stallwache-Bar Maestro genug ist, greift heute Doctor Henri ins Steuer. Bereit, sogar nachts die Rückfahrt anzutreten, was heldenhaft genug ist. Geht es für Makarios und Pichelstein doch zwei Tage später weiter zum Streaming-Konzert nach Rostock. Da möchte man mittenmang liebend gerne mit dem Gesichtsfaltenbügeleisen im eigenen Badezimmer stehen und mit mehr Lebenswillen als Unkraut ein deftiges Frühstück innerhalb einer Pyjama-Eskalation verspeisen.    

 

Thüringen lockt, genauer das Sommer-Open Air auf dem Wotufa Hof in Neustadt an der Orla. Hans Eckhardt Wenzel spielte gestern hier, heute sind The Russian Doctors als Vorhut der Surf-Rockabillys vom Jancee Pornick Casino dran. Feine Menschen, wie sich später im Backstagezelt herausstellen wird. Schöne Themen. Frauenthemen auch. „Was mach ich bloß mit meiner eifersüchtigen Freundin?,“ wird der Schlagzeuger mit dem Reklamierarm eines Manuel Neuer fragen. „In Therapie ist sie schon.“ Schweigen. Klingt drollig. Folgender Gedanke wurde nicht ausgesprochen: „In jedem Mann steckt ein Don Juan. Aber auch in einem Schlagzeuger? Ganz hinten, am Ende der Bühne? Wirklich?“

 

Rauchpausen müssen auf der Fahrt eingelegt werden. Auch bei Triptis, wo es alle mächtig im Hermsdorfer Kreuz haben (von Kudernatsch übernommen). Angesteuert wird der Rastplatz mit dem gleichnamigen Ausflugslokal Rodaborn, das man allerdings nicht erreichen darf. Ein fingerfressender Metallzaun, versehen mit allerlei Verbotsgebaren des Thüringer Landesbauamtes, verhindert das. „Fingerfressend“ ist apropos kein Schnullipulli. Im Juli 2012 wollte ein Ehemann, um zum Rosterstand zu gelangen, über den Zaun klettern. Dabei blieb er mit einem Zeichen ewiger Treue am Zaun hängen und riss sich den dazugehörigen Finger ab. Dass es sich in der Geschichte um einen Ehering und nicht um einen Cockring handelt, versöhnt doch sehr.

 

Was die Fahrerei betrifft, stellt Henri das genaue Gegenteil von Frank The Tank dar. Während letzterer stets die Geduld verliert, die er gar nicht hat, kurvt ersterer locker auf dem Gaspedal durch die Lande und kann auch einem Stau nichts Vernichtendes abgewinnen. Als das zuletzt wohl Anfang der 2000er-Jahre aktualisierte Navi Tankstellen am Zielort ansteuert, die heute keine mehr sind, wird klug drauf gepfiffen. Doctor Henri, möge er der erste Optimismusbeauftragte der Doctoren werden. Doch um das Gleichgewicht zu halten, darf Frank The Tank niemals lange fehlen. Im Übrigen: überall, wohin man ohne ihn fährt, wird er schmerzlich vermisst. So auch von der stets perlend lachenden Veranstalterin Frau S. aus D. noch ehe die ersten Roster am Grill verdrückt sind.

 

 

 

 

Im eingangs erwähnten Backstagezelt gibt’s bereits vorm Soundcheck italienischen Prosecco, der in Gera vom Laster fiel und in einem Eiseimer mit der Aufschrift „Corona“ kredenzt wird. Letzthin führt das alles dazu, dass Pichelstein erstens nach dem Soundcheck fast (mit Frank The Tank-Schwenk) von der Bühnentreppe kippt und zweitens Kopfball mit einer Metallstange spielt.

 

Brummschädelig geht’s ans Eingemachte. Hinter den Pinkelbüschen quietscht ein nichtgeölter Vogel und der Wotufa-Mischer mit Blues im Blut und Rock in den Haaren stellt auf GO! Makarios peitscht den Rotarmisten aus dem Keller, legt ein Hit-Brikett nach dem anderen aufs Pratajev-Förderband und schon tanzt der Garten wie nach dem Ende eines trüben Kohlrübenwinters.  

   

Pichelstein wird von Hummeln und allerlei Stechvieh attackiert, kein Wunder, wenn man vorher in Honigcreme badete. Grundsätzlich sollten Mücken übrigens Fett und kein Blut absaugen. Vielleicht kann die Wissenschaft nach Corona da was drehen.

 

 

 

Zwischen Amok und Idyll geht’s hoch her – während Henri am Merchstand lässig Zigarillos schmaucht und bereits in der Konzertpause die Merchkasse füllt. Alles im Rund gemahnt an einer Wiege sanfter Sorglosigkeit, bevor es mit Ekstase und rauchiger Zungenrede in den zweiten Block geht.

 

„Reife Leistung!“ brüllt jemand aus dem Tumult der Tanzenden heraus und das ist für heute Kompliment genug. Als eine Frau mit Haarpalme auf dem Kopf überm kleidsamen Sommerlook gegen einen Tisch knallt und alles scheppert, läuft die letzte Schnapsbar. Klar, dass der Abend gelungen ist und damit der Zugabeblock ein Ende findet. Holla die Wodka-Fee! Lang lebe der Restalkohol! Danke, liebes Wotufa-Team für diesen Abend. Eure konzertglücklichen Doctoren.   

 

Caca de Luna (427)

 

Das frei nach Michael Ende noch nicht geschriebene Corona-Buch „Die unendliche Geschichte II“ hatte man sich wahrlich anders vorgestellt. Darin enthalten: Blacky the Brain-Verschwörungsheinis. By the way, DAS wisst Ihr noch nicht: In „Umschnalldildo“ verbirgt sich das Wort „Aldi“. Stolz wie ein Meerschwein, das ins Heu geschissen hat, kann man das frank und frei verkünden. Merke (ohne l und muss und weg): zu Aldi besser nicht mehr hingehen, sonst Stress am Bananenregal.

 

Schön und gut. Nach fast sieben konzertlosen Monaten benötigte Doctor Pichelstein eine Ganztagesprobe, um sich auf alle Eventualitäten abseits der Setlist einzuschießen. Man weiß ja nie. Nachher ruft jemand im Zugabenblock: „Der edle Mann“ oder „Pferdelunge“ und dann wird der Blick ins Uhrwerk schweinisch. So eine Probe muss selbstverständlich unter Konzertbedingungen über die Bühne gehen. Also gilt es, sich nach jedem Liedblock einen Bulbash reinzuschallern, um ja nicht der Tyrannei der Selbstoptimierung zum Opfer zu fallen. Zu wissen, wo die Finger auf der Erlenholzgitarre wann und vor allem warum hinmüssen, reicht völlig aus. Dazu ein Mantra: Wer schneller probt, ist eher fertig, und freut sich wie Bolle aufs Konzert in der Stallwache. Auch wenn nur eine begrenzte Zuschauermenge hineindarf, wir haben ja immer noch Corona an den Hacken. Geimpfte Doctoren hin oder her.

 

 

 

Die Stallwache ist im Leipziger Westen, in Plagwitz verortet. Genauer im Westwerk an der Karl-Heine-Straße. Kein Blaulichtmillieu wie in Connewitz, ein reiner Ausgehbrennpunkt, eine Wiege sanfter Sorglosigkeit. Alles drin: verfilzte, tiefenentspannte Trommler (Karma is a bitch), Insta-Krawallbarbies, prokrastinierende Studenten, die dem IKEA-Holzspiel Kubb (mit Glasflaschen umfunktioniert) nachgehen. Verdorbene Jugendliche mit Rapkacke aus Computerloops in den Ohren; wer müde wird, schläft auf dem Rinnstein und wird vom Cordhosensaurus (aka: Flaschensammler) geweckt. Verhuschte, schöne, liebe, tolle, wundersame Menschen, auch die. Und solche, die gerne einmal „Caca de Luna“ probieren würden. Das ist leider keine Droge, sondern eine in Mexiko sehr beliebte Pilz-Spezialität, die in unseren Gefilden auf Rindenmulch als schleimige „Gelbe Lohblüte“ durchs Hochbeet zu wandern vermag. Übersetzt bedeutet „Caca de Luna“ Mondkacke.

 

In Schweinfurt gibt es das (außer Mondkacke) alles nicht, wie den Docs später am Abend vom am weitesten angereisten Tross berichtet werden wird. Vorweggenommen: ein großes Wiedersehen, ein Fest, das einmal mehr verdeutlicht: in der fränkischen Wein- und Schäufelegegend weiß man: große Tugenden gehen mit noch größeren Lastern einher. Und sind sie lecker und sie sind schwer, dann heilen sie jedes Leid umso mehr.

 

 

 

Von derlei Gedanken noch weit entfernt baut Pichelstein die Bühne auf, Makarios übernimmt den Soundcheck, Stallwachen-Imperator Fürst Fedja befüllt Wodka-Gläser für die ca. 30 geladenen Gäste. Im Eintrittspreis enthalten: ein schöner Rausch aus feschen Flaschen. Dazu ein paar Cocktails aus der Schmo-Kredenzeri. Schon fallen alle Hemmungen, sofern jemals welche da waren. Brandenburger reiten ein, Chemnitzer, Lichtensteiner, Dresdner, Leipziger … die meisten hat man mindestens sieben Monate nicht mehr gesehen. Und da die Inzidenzen es jetzt samt Impfsport zulassen, darf sich wieder fleißig umarmt werden.

 

Gespielt wird heute in mehreren Blöcken, Weltpremieren tummeln sich im Set. Solche, die unter normalen Umständen längst auf Platte erschienen wären. Doch da auch die Party zum frisch eingespielten Werk „Die Schönen und die Bösen“ geschoben wurde, muss die Veröffentlichung noch ein wenig warten.

 

Alles beginnt mit dem „Faulen“ und endet zunächst mit „Fürchte dich nicht vor der Flasche“, „Männer die am Feldrand stehen“ sowie dem Sieger des nächsten Frisör-Song Contests „Kamm aus Horn.“  Die Schnapsbar wartet auf trockene Kehlen, Küsse, Komplimente. Freudig festgequatscht geht’s wenige Viertelstunden später weiter mit der ersten Hitrunde eines erneuten Kurzhosenkonzerts. Pichelstein lässt den Gitarren-Pitbull von der Leine, Makarios holt ihn mit dunkler Dichterstimme locker ein. Das Momentum bricht sich freie Bahn. Geniestreiche, fröhliche Versinger folgen, während alles tanzt, singt, Holzlöffel schwingt. Sogar Nudeln, Biber, Hennen und Katzen sind am Start. Nur keine Ratten. Die haben vermutlich Impf-Laborarbeit zu tun.  

 


 

Nach weiteren Pausen, Premieren und Schnäpsen, die dank Fürst Fedja unermüdlich zur Bühne schlabbern, soll es reichen, doch nein. Zugabewünsche werden durch die Stallwache gerufen. Glücklicherweise probte Doctor Pichelstein zuvor eben ganztags und schüttelt die Fettfrösche nur so aus dem Handtuch. Bis es kommt, das Eis, das nicht im Cocktail liegt. Das Eis, das bis ins Elbtal tönt. Das Eis, das immer knapper wird. Mit Gold aufgewogen und geschmolzen.

 

„Als das Eis kam so plötzlich“ … und so plötzlich ist das langersehnte erste Konzert nach dem zweiten, dritten Rockdown vorbei. Was noch bleibt, ist eine lange Nacht mit Caca de Luna am Himmel und vielleicht auch im Tomatenbeet.

 

***

 

Fotodank an die Reisegruppe Karl-Marx-Stadt und Miss Amanda Ginger.

 

 

Unterkategorien