Russissmus ist ein schönes Wort (317)


Ein bisschen trübe ist die Stimmung im Tourauto, was nicht am gleichgesinnten Wettergott liegt. Schließlich geht so ein Flugzeugabsturz mit 150 Toten einem doch sehr nahe. Nahe gehen einem auch folgende Sujets: Französische Alpen = beliebte Flugroute der Doctoren gen Portugalien. Wie in den Troll-Medien über die Tragödie berichtet wird = an welcher Stelle eines drohnenhaften Journalistenlebens setzt eigentlich der Verstand aus? Gleich nach dem Förderschuldiplom? Das Dumme ist nämlich: Seit es die sogenannten sozialen Medien gibt, fühlen sich all die anderen Förderschüler auch berufen, Sponti-Headlines zu produzieren und/oder alles zu kommentieren, was ihnen in die Quere, sprich: auf ihr internetfähiges Ding mit Telefonnebenfunktion, gelangt. Ach, was war das früher doch schön, als empörte Vertriebene, Rentner und Alleinstehende noch Leserbriefe ersannen, damit das ganze Wochenende zubrachten und am Montagmorgen eine besonders hässliche Briefmarke für den Postversand zur Lokalzeitung aussuchten. Wir wollen zwar keine Umkehr von der Aufklärung wieder hin zur Säkularisierung, doch tausenden von Mitmenschen, die eine Primitivform abgespaltenen Hirnmaterials innerhalb ihrer Tippfinger besser ausschließlich ins Nagelstudio tragen sollten, sei gesagt: Dafür kommt Ihr noch in die Hölle, ins Fegefeuer. Ganz sicher. Fragt die Verschwörungstheoretiker. Die holen schon mal Holz. So, das musste mal gesagt werden. Auf das passende Icon hinter diesem Satz wird bewusst verzichtet.

 

Fürst Fedja geht es heute gar nicht gut. Dienstag auf Mittwoch gab es ein langes Familienfest. Kleine Ursache, große Wirkung. Doctor Makarios auf dem Sozius spricht beruhigend auf den in sich ruhenden, sich selbst kasteienden Fahrer ein: „Wir sind ja gleich da, dann bekommst du einen Tee.“ Also steht um 18 Uhr 30 bereits fest, dass der letztjährige Bandrekord im Getränkeverzehr an der Bar des Flowerpower Chemnitz ever sich nicht toppen lässt. Vermutlich belegt die Doctors-Crew auf ihrer „Machen Dich Messer Du Möhre-Tour 2015“ einen ganz schlechten hinteren Rang. Selbst Margot Käßmann, sofern eine Buchlesung zum Thema „Säkularisierungswünsche in den sozialen Medien“ diesjährig noch ansteht, stünde im Jahresranking am Ende weit vor den Doctors.

 

Chef Danny weht wie ein frischer Wind um die Ecke, schon ist die Bühne bestückt, Fedja bekommt seinen asketischen Pfefferminztee, Makarios und Pichelstein schnabulieren Kaltgetränke. Zu Viert werden Riesenschnitzel verdrückt und selbst danach: wohlfeile Apelle der Kollegen an den Fürsten, doch zumindest nach dem leckeren Essen einen gesunden Kräuterbitter zu prüfen, verpuffen. „The Tank“ bleibt eisern. Selbst eine stundenlange TV-Sondersendung zum Thema „Gesunde Kräuter aus dem Wald, in Maßen genossen, helfen in allen nur erdenklichen Lebenslagen“ mit Maybrit Illner oder Anne Will oder wie die alle heißen, hätte nichts genutzt. Selbst wenn Lichtgestalten wie Karl Moik oder Margot Käßmann sich darin in irgendeiner Weise pro-Kräuter geäußert hätten, das Ergebnis wäre weiterhin Tee geblieben. Karl Moik wurde in diesem Zusammenhang übrigens nur genannt, weil er kürzlich ehrenhaft verstorben ist. Wir haben schon einmal in einem vergangenen Tourbericht nicht gerade heroisch über eine verstorbene Vertreterin der Volksmusikgruppe Mensch - es muss sich um eine Jodelkönigin gehandelt haben - gesprochen und dafür harsch kommentierte Kritik in den sozialen Medien einstecken müssen. Das wollen wir diesmal nicht riskieren und könnten jetzt sogar in einen Konjunktiv-Reigen zu Ehren Karl Moiks verfallen. Mit Indikativen setzt man sich bekanntlich viel zu schnell in die Nesseln und wir wollen ja alle lieber im Bärlauch sitzen. Nicht in den Maiglöckchen! Und erst recht wollen wir nicht ins Fegefeuer.

 

Doch genug der weiterhin (was ist denn heute los?) langen Vorrede. Eigentlicher Anlass des Tages ist das Konzert. Der Techniker, die Barleute, die Doctoren natürlich - alle warten auf Gäste. Vereinzelt wurden erste Tische bereits fröhlich okkupiert, doch nun geht es auf 21 Uhr zu. In einer halben Stunde, soll, so die Planwirtschaft, das Intro erklingen. Es wird 21 Uhr 30. Und noch immer ist der Laden fast leer. Chemnitz scheint in Trauer zu sein. Möglicherweise wurden Ausgehverboten verhängt, von Ehepartnern, von Chefs (ist ja schließlich DIE Arbeiterstadt Sachsens!), von Hunden oder Katzen. Liegt es am langen, ausführlichen Vorbericht des Abends in der Freien Presse? Das Timbre in Doctor Makarios Stimme spielt ins Düstere. Kaum Seerosen auf dem Teich vor der Bühne, um mal ein Beispiel aus der Natur zu bringen.

 

 

Dann, mit einem Male, man glaubt es kaum, findet eine rasante Publikumsvermehrung statt. Die Doctoren haben bereits erste Laute von sich gegeben. Die „Feldmänner“ stehen am Rand, wie ein vollbesetzter Seerosenteich sieht die Szene beim „Idyll“ mittlerweile vor der Bühne aus. Ein einziges Drängeln und Schieben, Johlen, Trinken und Klatschen. „Vielleicht werden in Chemnitz ja wieder Leute abgeholt. Zum Konzert. Mit dem Bus“ - derlei Gedanken strömen Pichelstein durch den Kopf. Schon wird der erste Kräuterschnaps gereicht. Doctor Makarios verschluckt sich gleich mal fürchterlich (und hatte vermutlich Ersatzstoff erwartet). Der Russissmus ist im vollen Gange. Schönes Wort: Russissmus. Bevor so ein Wort übel beleumundet wird, wollen wir es an genau dieser Stelle retten! Russissmus soll bedeuten: So ist es in Russland, so war es in Russland, am tollsten war es dort einst im Mittleren Ural, als Pratajev noch lebte. Besagter Issmus ist aber leider keine Erfindung der Russian Doctors in ihrem Tourtagebuch. „Google“ weist bereits zwei Einträge (Stand: 29.03.2015) in zwei verschiedenen Foren sozialer Netzwerke auf. Künftig werden es drei sein. Tendenz: steigend.

 

 

In der Pause machen die Doctors eine erfreuliche Bekanntschaft: Die Inhaberin des Nudelparadieses Chemnitz begeistert sich in ihrer Rede sehr am Lied mit den 1000 Nudeln, die ein verzweifeltes Pratajevherz durchbohrten. Friede, Freude, Nudeln. Was braucht man mehr? Rasch ein paar Kaltgetränke, noch ein Wasser für „The Tank“. „Pocket Rocket“ und Makarios stehen wieder auf der Bühne. Weiter geht’s.

 

Wie auch immer es dazu kam – die Rekordwerte an der Gitarre fallen heute zu großen Teilen aus. Erstmals in der Doctors-Geschichte gibt es den „Biber“ als Ballade, fällt die Olympiasiegmedaille in der „Harten Wirtin“ einer seichten, zarten Akkordschwemme zum Opfer. Doch letztlich ist Pichelstein natürlich nicht zu halten. Die Doctors drücken auf die Tube, das Flowerpower Chemnitz tobt, die Schnapsbar wird bereits mit Walzerklängen warm umspült. Der Wunschblock in den Zugaben lässt den Seerosenteich endgültig überlaufen; Pichelstein ist nicht von der Bühne wegzubekommen. Makarios trat längst die Flucht Richtung Merchecke an und muss doch noch einmal zurückkommen, sitzt am Bühnenrand auf ein letztes „Schnaps und Weiber das ist fein, draußen heult der Wolf vor Kälte und manchmal quiekt auch ein Schwein….“ Sagenhafter Abend! So geht das mit der sozialen Vernetzung. Soziale Reize live und in Farbe sind die stärksten Reize. Und die finden nun einmal in der Realität statt, im wahren Leben. Zum Beispiel im Flowerpower Chemnitz.

 

 

 

Wurst aus Teamgeist (316)


Die Erderwärmung untertreibt es mal wieder mächtig; am Tag Eins nach dem Frühlingsanfang ist es kälter als zu Weihnachten. Die Polarexpedition der Russian Doctors ist auf dem Weg nach Wittenberg und einer friert ganz besonders: Der eben erst aus kanarischen Wunderlanden ausgeflogene Doctor Makarios. Seit dem Kachelmann und Ben Wettervogel (ein vom Mittelmeerraum einfallendes Hochdruckgebiet habe ihn selig) vom Bildschirm verschwunden sind, macht TV-Wettergucken keinen Spaß mehr. Die Speerspitze des Schlimmen braut sich in manchem ZDF-Morgenmagazin zusammen. Zuschauerfotos! Mit fotogeshoppten Sonnenaufgängen! Und dann überall diese Frühblüher, die Krokusse des Grauens. Neulich wurden die Zuschauer doch tatsächlich dazu aufgefordert, Fotos von sich selbst, sogenannte Selfies, einzureichen. Nein, man möchte morgens um sieben keine echten Mitmenschen sehen. Erst recht keine vor einem fotogeshoppten Sonnenaufgang. Sondern irre Politiker, wirre Künstler, kühle Moderatoren, die ein wenig an Sprechpuppen mit künstlich aufgemalten Leberflecken erinnern.

 

An der Shell-Tankestelle Leipzig-West legt Makarios das Tour-Motto für die nächsten Interviewfragen fest: „Wir machen jetzt auch Doc-Rock“. Pichelstein versteht nur Hund und ergänzt: „Aber auch ein bisschen Cat-Blues“. Dann geht’s den Teamgeist stärken. Denn ja, Teamgeist ist auf einer Tour sehr wichtig. Der gemeinsame Verzehr von Bockwürsten möge ihn für heute stärken. Doch, nur am Rande, keine Sorge: Nie haben sich die Doctors auf einer Tour gestritten. Das können die gar nicht, denn es gibt ja immer Bockwurst. Und danach ein Shake-Senf. Wer ihn stolz auf der Hose trägt, gehört dazu, zum inneren Zirkel der Doc-Rocker.

 

 

Fürst Fedja parkt den BWM vorm Irish Harp Pub, drinnen träumen alle vom Einzug der Dortmunder in die Champions League-Ränge obwohl sich Schalke gegen die Werkself müht und letztlich verdient verliert. Rückschlag für Dortmund, murrt Fürst Fedja, greift sich vor Wut ein Eiersalat-Brötchen und beißt kräftig hinein. Denn heute wird Frontstage gespeist. Wirt B.N. Guinnessoff – als hätte er es geahnt, der Gute – hat aufgefahren. Es gibt Teambuilding ohne Ende, sprich: Bockwürste, und die sind schneller alle, als Hunde mit neongrünen Blinklichthalsbändern gucken können. Wurst aus Teamgeist! Das kann ja heute nur ein fabulös-genialer Abend werden. Auf zum Soundcheck, die ersten Pub-Bewohner kommen von der Hausarbeit heim. Berlins Vorzeige-Eishockey-Zeitungsarchivar Eademakow bestellt das erste Kaltgetränk. Murphy's Irish Red für Doctor Pichelstein. Und einen Schnaps und noch einen zum Wohlsein.

 

 

Mutti Pia, die unnachahmliche Gefesselt-Queen, gibt sich die Ehre. Vertreten sind die besten Fans der Nordliga, der Hannover Indians. Fürst Fedja und Pichelstein starren gebannt auf den Datenapparat mit Telefonnebenfunktion: Die Icefighters Leipzig gewinnen soeben Spiel 2 der Nord-Ost-Pokalserie gegen den hallensischen Erzfreund mit 5:2. Bockwurst sei Dank. Soviel magisches Denken muss sein. Dann startet das Konzert mit allen Höhen und Höher-Höhen. Wittenberg erlebt eine Weltpremiere: Pichelstein trägt Samtschlips überm aufgeknöpftem Langarmshirt. Weil es der Teamgeist so will. Und wie er rast, kennt kein Halten. In der Pause sagt ein Doctor dem anderen: „Eigentlich ist Set Nummer Eins 60 Minuten lang, wir stehen bei Minute 47“. Darauf einen Gelbschnaps. Die irische Wirtschaft tobt und trinkt. Torgauer Punks sei Dank.

 

Murphy's Irish ist nicht zu toppen. Über den Rotarmisten geht’s nach langem Block zu den Zugaben. Durchs Mitsingen trägt mancher ein wundes Zäpfchen davon. Schwankend heroen die Einen durchs Feld, die Anderen halten sich an Pfosten und auf Barhockern fest. Doch nach der vierten Schnapsbar muss es reichen. Die Teamgeist-Doctoren liegen sich in den Armen und Fürst Fedja beeilt sich. T-Shirts, Bücher, Platten – alles will an die Frau und an den Mann gebracht werden. Während Doctor Pichelstein einen virtuellen Schnellgitarre-Gutschein einlöst: Schülerin Nele bekommt Hausaufgaben auf. Bis zum nächsten Konzert.

 

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