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Wer im Winter feiert, der verliert (345)
Opus Maximum! 50 Jahre Olaf – und das bereits seit einigen Monaten. Doch wer im Winter feiert, der verliert. Das wusste eines Tages auch Anatoli Prumski, als ihm im Februar 1952 nach einem Gelage zu Ehren des Wirtes Romakow zwei ungewaschene Komsomolzinnen auflauerten und böse verführten, respektive verfilzten. Der später hinzugezogene Veterinär rümpfte die Nase und rief: „Wer im Winter feiert, der verliert“. Also: 50 Jahre Olaf im Wonnemonat Mai. Da lassen sich die Doctoren nicht lange bitten und sind dabei.
Gefeiert wird in der Leipziger Gießerstraße, im Club La Fonderie, dessen Außenfassade eben erst durch einen Sprayerangriff ruiniert wurde. Die Schmierfinken hinterließen eine donnernde Botschaft der Marke „Gegen Luxussanierung“. Hm, das mag ja alles richtig sein, wer ist denn nicht gegen die üblen Machenschaften böser Miethaie, fieser, weil profitgieriger Konsortien, Stichwort: Gentrifizierung? Nur – wussten die Sprayer, dass die Inhaber mit viel Liebe, Kredit und Herzblut den ganzen Laden eigenhändig auf Vordermann brachten, um sich ihren American Dream in Leipzig-Plagwitz zu erfüllen? Ergo: Erst denken, dann sprühen. Oder eben – wie in diesem Falle – nicht sprühen.

Die Bühne wurde bereits tags zuvor aufgebaut, das musste so sein, denn Doctor Pichelsteins früher Pfingstsonntag fand zu großen Teilen im Matatu-Studio des Dr. Jeans statt. Die nächste Doctors-Platte wird gerade stürmisch aufgenommen. Nach getaner Arbeit geht’s gleich in den Club. Herrlich ist’s, göttlich ist’s. Belohnung für wunde Gitarrenfinger bietet die Schnapsbar feil. 80 Gäste sind geladen, nach und nach tropfen sie ein. Tropfen deshalb, da es draußen phasenweise wie aus Kübeln schüttet. Im Schwatz kommt man sich näher – es folgt die Rede eines Schulfreundes über die Kernkompetenzen des Olaf, die Beschreibung glücklicher, manchmal gar verrohter Vergangenheiten. Markenzeichen: Verlässlichkeit. Und alle stimmen ein. Nächster Programmpunkt: Ein Geburtstagsgeschenk namens Kabarett. Klar, mit dem gefürchteten „leichten Augenzwinkern“ unter dem an der Bar nichts bestellt werden darf. „Ich geh jetzt zur Tanke“, ruft darauf ein Herr in den besten Jahren, reißt die Tür auf und verschwindet im Regen, Ehefrau oder Freundin hinterher. Dann: Olaf auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Olaf am Mikrofon. Er sinniert, blickt klug, charmant und feinsinnig auf 50 Jahre zurück, eröffnet mit einem verschmitzten Lächeln das Buffet. Es wird geklatscht, dann ruckeln die Stühle und es heißt: Essenfassen. Der Kulinarik sind keine Grenzen gesetzt. Feldfrüchte, Meerestiere, Weidenbewohner: eingesammelt, um vom Volk verzehrt zu werden.

Der soundprügelnde DJ schweigt, die Russian Doctors bitten zum Pratajev-Tanz, zur ersten Runde. Eben wurde „Der Starke“ zum Besten gegeben, in dem bekanntlich ein Kind aus einem Holzkarussell fällt und den erschütterten Eltern letztlich als Bündel übergeben wird. Schon passiert ähnliches live: Kind stolpert, fällt in eine Glaskonstruktion, es scheppert nur so und damit bloß keiner schimpft, wird losgeweint. Ein nachvollziehbares Verhaltensmuster, das selbst mancher Erwachsener bis zur Perfektion beherrscht. Getrunken wird, gesungen, gejohlt, geklatscht. Makarios führt durchs Programm, lobt Schweine, schwingt Löffel. Pichelstein rast dazu über die Gitarrensaiten, schon läuft die erste Schnapsbar heiß und kalt über. Pause.
Die Vorbereitungen der Doctors fürs zweite Set sehen wie folgt aus: Fürst Fedja schenkt leckeren Bulbash aus, die Maultaschengaumen freut’s. Beinahe schon schwach auf der Zunge geht’s mit Tempo, Wucht und Spektakel weiter. Kinder malen dazu Pratajev-Lieder, den ersten Preis gewinnt das Werk „Kommt die Katz“. Getreu dem Arbeitermotto: Teamwork makes Dreamwork ist der Abend schließlich gelungen, schlottern die Knie bis der Kompass beim Gros der Gäste vollends über den Jordan geht. Schwankend, tanzend, glücklich lächelnd, stets ein Promill‘ über der Mutigkeit erhaben hüpft man drinnen, während draußen die Feuerzeuge leergeraucht werden. Danke lieber Olaf, das war ein Fest voller Genüsse. Lesen wir den Tag, lesen wir 50 Jahre und erkennen im Sinne Pratajevs: Saus, Braus und Schmaus sind die verdienten Nachtische harter Arbeit.

Anhübschen im Bulbash-Garten (344)
Leipzig ist ein einziger Kajalstrich. Das jährliche WGT findet statt und außerhalb des Programms konzertieren die Doctors im Cafe Westen. Ein Heimspiel der kurzen Wege. Doctor Pichelstein lädt Doctor Makarios ein und genau 45 Minuten später steht die Bühne griffbereit, ge-soundcheckt zum Ansturm. Fürst Fedja bestellt Getränke im Bulbash-Garten und nach dem dritten Durstlöscher wird Pichelstein einmal mehr in die Volkshochschule geschickt. Der Kurs heißt wie immer: Sächsisch-Hochdeutsch und geht so:
„Sag mal, was ein Schlaz ist…“
„Kann man das essen?“
„Nee“.
„Ist das sowas wie ne Hitsche?“
„Nee“.
„Also – ein Schlaz ist ein Riss im Gewebe, den man sich nach dem Sturz vom Schiddl zuziehen kann.“
„Und jetzt rate mal, was ein Schiddl ist…“
Es folgt die Speisung der Rüsselhunde, folgen „Kleine“ und „Keine“ Schnäpse (Kleine = Glas Dreiviertel gefüllt, Keine = Glas halbvoll. Hinzu addiert sich im Doctorssprech: Ein Schnaps = Glas bis zum Rand gefüllt, schwappt bei Zittrigkeit über). Voll ist der Bulbash-Garten, im Club sind die besten Plätze eingenommen. Den Preis für die weiteste Anreise erhält einmal mehr Genosse Peter aus Wismar, zum Stargast des Leipziger Ostens wird der rasende Ulf erklärt. An seinen Fersen heftet zunächst eine trüb blickende Gästin der Monte Negro Bar, die sich im weiteren Verlauf des Abends Herrn But zuwenden und im noch weiteren Verlauf ein weibliches „Idyll“ aufs Parkett legen wird. Gemeinhin scharrt man mit den Füßen, kann losgehen, Makarios und Pichelstein schwören sich mit einem hochemotionalen Pratajev-Huddle auf die Party ein („Noch eine rauchen, mein Doctor“), dann ist Showtime!

Vermutlich, weil gleich in einigen Anfangstiteln das Wort „Schnaps“ vorkommt, brummt der Barbetrieb, bilden sich lange Schlangen, bis erste Gäste bis unter den Mittelscheitel betrunken sind. Ab und zu verlieren Gläser den Kampf gegen die Schwerkraft, munter geht’s zu. Die Holzlöfflerfraktion II huldigt im Kulinarikteil Pratajevs damit einhergehende Vorzüge (gutes Essen, schnelle Löffel, schöne Köchinnen) und der Wirt reibt sich die Hände. Das soll er auch, denn wie heißt es trefflich? Geht es den Wirten gut, geht es den Musikern gut. Merke: Wer sich als Gast zu einem Konzert aufmachte, sollte sich erst in der Kneipe anhübschen und nicht bereits Stunden vorher. Grobes Fehlverhalten könnte dergestalt an den Tag gelegt werden. Siehe hier: Gästin aus der Monte Negro Bar feat. Herr But – beide liegen sich mittlerweile knutschend im Weg. Zu heftigen Überschätzungen unter Seitenblicken älterer Männer auf sehr junge Frauen führt frühes Anhübschen unbedingt. Dem darunter gesprochenen SparShip-Satz „Hallo, ich bin der Ronny aus Paunsdorf“ sollte besser gleich hinzugefügt werden: „Und morgen wohne ich auf Gut Aiderbichl“.

Inzwischen auf der Bühne: Doctor Makarios‘ wertvoller Vortrag lässt vermuten, er habe die Nacht über mit dem Kissen auf dem Gesamtwerk Pratajevs geschlafen. Auf jede noch so schwierige Publikumsfrage erklingt die passende Antwort. Selbst wenn sich Pichelstein mal wieder in ein völlig anderes Stück als geplant hineingaloppiert („Biber“ im Fetischbloch! „Pferdelunge“ musste sein, lange nicht mehr gespielt und doch so schön!). Vor Freude flirren die Stimmen, die erste Schnapsbar ist gespielt. Pause im Cafe Westen, Zeit, um sich mit Frotteestoff den Schweiß von der Stirn zu wischen. Abkühlung garantiert der Bulbash-Garten.
Drei Kaltgetränke später folgt der Endspurt, werden „Der Böse“, „Der Bedrückte“, „Die Schwimmerin“, „Der Käferzähler“, „Die Dünne“ und wie sie alle heißen zum wandernden Pratajev-Gefolge. Pichelsteins heutige Interpretation der „Harten Wirtin“ gemahnt stark an einen neuen Weltrekord im Schnell-Akustik-Gitarrenspiel (leider war der Zeitmesser-Akku runter). Dann heißt es: Von Schnapsbar zu Schnapsbar, über den Zugabeblock in die wohlverdiente Feiernacht hineinplumpsen. Fürst Fedja bringt den letzten Schnaps zur Bühne und der ist heute von besonderer Köstlichkeit. Pichelstein hechelt, die Zunge liegt bleiern wie eine Kirchturmglocke im Mund, die Finger pochen. Sitzend greift er noch einmal in die Saiten, das tanzende Volk verlangt es, kräftig wird mitgesungen: „Bella Ciao“.
