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Kein rosa Eimer für den Morgen danach (337)
Ripple the mesh, tickle the twine! Rim! Rim! Rim! Coast-to-coast-Forecheck im Powerplay entlang der Boards, feindliche D-Men werden wie Pylons umkurvt. Ein Slapper aus dem Corner, der Goaltenders friert den Rubber ein. Der Clapper ist da, das Waffleboard glänzt. Es geht rund am Bullypunkt in der Attacking Zone. Der Pointman mit einem Fancy Move, ein Deke-it-like-Gretzky dem Stay-at-Home Defender, im hohen Slot brennt‘s lichterloh. Die Diamond-Box hält – doch dann: Lücke vorm Goalmouth, Tendy im Screenshot, der Puck landet Upper Deck, wird zum Cheese, zum Bottle Knocker. Light the Lamp! Biscuit in the Basket! Buzzer!
Ja, Doctor Pichelstein, Verfasser der allermeisten Tourbuchzeilen, war zuletzt mit derlei Poesie ein wenig abgelenkt und schrieb ein neues Fachbuch. Er ist ja auch, O-Ton Makarios „Der schnellste Eishockeypoet der Welt“. Also nicht nur der „schnellste Akustikgitarrist der Welt“. Und brach somit erstmals das pratajevsche Tagebuch-Gesetz: „Schreibe auf was du erlebst, schreibe es rasch auf, denn sonst hast du alles schnell vergessen“. Nun gut, knapp vier Wochen nach dem Geschehen in der Frau Krause (Anlass: Das große Jahresfinale der Russian Doctors) ist hoffentlich noch einiges Wissen in der grauen Hirnzell-Froste konserviert. So schalten wir rasch zurück in die Gegenwart.
Den Jena-Abend noch in den Beinen tritt Pichelstein aufs Gaspedal, die Simildenstraße im Leipziger Sweet-Süden zu erreichen ist ein Kinderspiel. Solange dortselbst keine Mülltonnen brennen und Straßenbahnhaltestellen mit dem Politbüro der Partei „AFD“ verwechselt werden. Der Regen prasselt, die Backline ist schwer und traditionell bricht Pichelstein vorm Tresen in der Krause nach all der Schlepperei zusammen, wird mit einem Bierchen versorgt und getröstet. Die Tröstung geht so: „Wer lässt denn da wieder die Tür offen? Tür zu!“ Nach dem ersten Gelbschnaps steht die Bühne und so soll es sein, es treffen ein: Die Herren Makarios und Fürst Fedja. Rasch ein Soundcheck, dann zum Schnitzelteller – trotzdem das Konzert erst um 22 Uhr beginnt, sind bereits zwei Stunden zuvor die besten Plätze belegt. Alle Saalbewohner packt der Hunger, sie wollen Schnitzelteller und dann gibt es die frittierten tischtennisschlägergroßen Leckereien nur noch als vegetarische Variante. Doch der Nachschub reißt nicht. Berlins Eademakow hat gar sehr viel Lob dafür übrig.

Gebissschnitzerschnaps steht heute auf der Präsentierkarte des Gurt Kaktus; die Freude ist groß, als der nordelbische Pratajev-Forscher himself die Bühne mit Feldfrüchten dekoriert. Dass man die genannte Schnapssorte aus dem Nachlass des Holzkünstlers Bermasik auch mit Wooster-Sauce als kleines Schmankerln zu sich nehmen kann, wird erst später zum Bekenntnis des Peter Richter werden. Nacktschnecken-Ingredenzien hätte Fürst Fedja dem weitgereisten Freund aus Wismar sicherlich ebenso andrehen können. Doch die Zeit der Nacktschnecken ist im Spätherbst (besonders auf Stränden und Fahrradwegen) vorbei.
Wen soll man alles aufzählen? Wer ist heute da? Ach, lassen wir’s. Alle. Von der Plüschblinkrattenliga bis zur Holzlöfflerfamilie über die Karl-Marx-Stadt-Rosa-Eimer-Fraktion einfach alle. Tierärzte, der Club der schönen Mütter, Lehrer, Schüler, Techniker, Ingenieure, Ärzte, sehr junge Schwestern, Bäcker, Psychologen. Biberzüchter, Verleger, Tüftler (Ja! Ein Pratajev-Spiel wie beim Monopoli! Das fehlt der Welt! Die Karten lesen sich vielleicht so: „Du hast in den Froschteich von Miloproschenskoje gepullert und bist dabei von Kommissar Igor Pavlowitsch mit Schrot beschossen worden: zweimal aussetzen und darunter 17 Bulbash-Schnäpse mit den Veterinären aus Murmansk trinken“) …. Und wer nicht kommt, der trägt gute Gründe vor, hat hohes Fieber oder leidet unter einer schwarzen Haarzunge. Und wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss Pogo tanzen, um vor der Bühne anzukommen. Die gute alte Liebe Frau Krause platzt bereits lange vor dem Intro aus allen Nähten. Die Wahrscheinlichkeit heute einer trunkenen Kollarbiergelegenheit anheim zu fallen, liegt beim Gros der Gäste im 100%-Bereich. Den Ausreißer nach oben gibt heute der Hausmeister. Aber das ist okay so, schließlich macht er sich gleich auf zu den Kollegen der Dritten Wahl ins Werk2. Ob er dort jemals ankam, ist nicht überliefert.

Überliefert ist indes ein Konzertstart. Die Lichtschwerter flackern, Makarios bittet die Feldmänner zum Tanz, Pichelstein zieht das Tempo an und scheppert drauflos. Scheiß auf heile Finger, mögen die Stahlsaiten heute nur nicht zu grausam sein. Vorweg: sind sie nicht. Gab es im letzten Krause-Jahr noch eine Blutgitarre zu bewundern, weil Bob der Fuscher die Pflaster-Protektoren anlegte. Merke: Das macht man als Gitarrist auf der Überholspur nämlich lieber selbst. Und so reiten sie dahin, die Wellen, die Ohrwürmer, die taumelnden, ganz und gar nicht gewürzscheuen Menschen im Saal. Fürst Fedja hat alle Schwanenseemühe die Schnapslieferungen heile bis vor die Bühne zu balancieren. Ausdrücklich darf geraucht werden und bevor der Gong zu Pause anschlägt ist die erste Flasche Gebissschnitzerschnaps aus der Schwarzbrennerei Kaktus nur noch ein Wermutstropfen (weil alle).

Aufrichtig geht’s weiter, Makarios wirft Pratajevs Leben mit ganzer Ausdauer in die Waagschale, Pichelstein gibt den Prumski, verfehlt den olympischen Schnellspielrekord jedoch um wenige Umdrehungen. Wäre jemand vom Finanzamt im Publikum, er würde rufen: „Ach ist das heute doch wieder eine wahrhaft vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung!“ Tja, Qualität im Kader zeichnet sich aus. Das gilt nicht nur fürs Eishockey, nicht nur für die Russian Doctors, das gilt in erster Linie dem wahnsinnig genialen Publikum. Es trägt die Docs bis in die Zugaben hinein, es singt mit, es kann sogar Dreivierteltakt-Kanon. Ob in Sandalen, High Heels, Stiefeln, Dackelleder-Slippern oder Schnellfickerschuhen. Kleiner Scherz, letztere trägt niemand. Wir befinden uns ja nicht auf der Touristenmeile der Leipziger Südvorstadt, dort, wo der gemeine Land-Muldentaler Tarzan spielt und mit kletterhallengestähltem Corpus Touran (samt neuster Testosteron-Technologie) angibt wie ein Sack voller Flöhe. Nein, wir sind in der Frau Krause. In „Frau Krause ihre Straße“. Bei den Guten, bei den Wilden, bei den Tänzern, Trinkern und Träumern. Mag die Welt außerhalb dieser heiligen Mauern noch so böse sein.
„Kein rosa Eimer für den Morgen danach“, lautet der hoffnungsfrohe Slogan der Karl-Marx-Stadt-Fraktion nachdem die allerletzten Zugaben verklungen sind. Und so kommt es dann auch. Erstmals wird nach einem Krause-Konzert in der Behausung Pichelstein rund ums Gästebett nichts verbrochen, sprich: gebrochen. Ganz im Gegenteil. Der Zufuhrpegel peilt fürwahr diametrale Richtungen an. Zu Depeche Mode, zu den Pet Shop Boys wird getanzt, Eademakow in der Mitte, Schnapsglas voran. Eine magische Nacht voller schlotternder Knie. Nur über den Tag danach (Kochen bei Olaf) hüllen wir besser den Mantel des Schweigens. Fürst Fedja und Pichelstein hinkten der Zeit lange hinterher.

Der Schnapsflaschenmann mit der Schnapsflasche aus Schnapsmark (336)
Na wunderbar, dem bereits fürs Frühjahr geplanten Alster-Besuch der Erben Pratajevs steht nichts mehr im Wege. Auf geht’s. Fürst Fedja übermittelt Winkegrüße aus belarussigen Schnapslanden, da geht das Business mal vor und Pichelsteins fixer Volkswagen dieselt als Tourauto durch die Lande. Über Wildbahnen mit A und B im Straßenatlas, durch Dörfer, alt und verlassen, bis hinein ins urbane Leben Thüringens und das findet natürlich in Jena statt.
Schlüsselkarten gibt’s im Ibis-Hotel, die Backline wird in den Club verladen, der Volkswagen parkt in der Tiefgarage nebenan. Neugierig, von Ferne einen ballermannartigen Sound vernehmend, stapfen beide Doctoren los. Ein lauschiger Weihnachtsmarkt wurde erwartet und was ist der Augenöffner? Ein Rummel. Mit Kotzmühle, Schießbude und Dosenwerfen. Erstaunlich. Will man zum Menü aus Roster und Glühwein gelangen, muss man da durch und die Mickie-Krause-artige Beschallung auch danach ertragen. Flötenmädchen und Blechhornjungs haben keine Chance auf akustische Hoheiten. „Stille Nacht, heilige Nacht…“ versus „Geh mal Bierholen, du wirst schon wieder hässlich, ein, zwei Bier und du bist wieder schön…“ Das scheint den Besuchern des Weihnachtsmarktes indes sehr zu gefallen. Studentische Hilfskräfte quieken vor Wonne, ehegelübt-vollzogenes Proletariat mampft sich stoisch in den Feierabend hinein. Wer die Backen gut füllt, muss nicht miteinander sprechen und scharfer Senf vernebelt das Denken. „Lass uns mal lieber wieder ins Alster gehen und uns an die Schnapsbar stellen“, sagt der eine Doctor zum anderen.
Dort angekommen wird durchgeschnauft, werden Drinks geordert, u.a. sehr gesundes Mönchsbier. Betreutes Trinken ist toll und die Bardame wird zum Spitzen-As im Helfersystem. Keine drei Gläser später steht die Bühne, leuchtet Mona Lisas Lächeln unterm Doctoren-Soundcheck umso heller. Der Club füllt sich; die lokale Pratajev-Sektion um Miss Inge A. Polenz gibt sich die Ehre und was haben wir da? Großes Töchterchen, passionierte Breakdancerin, textsicherer als Makarios und Pichelstein zusammen, erstmals bei den Russian Doctors! Da kann man prima am nächsten Tag bei allen angeben. Bei der Oma, auf dem Pausenhof und bei den Lehrerinnen sowieso. Los geht's. Das Intro läuft, die Feldmänner stehen Gitarre und Mikro parat bei Fuße.

Der Ritt durch Pratajevs Leben, sein Wirken, Darben und Feiern, wird zum Wiege deinen Rumpf-Triumpf. Jenas zahlreiche Gäste, befreit vom Rummel, atmen auf, respektive lassen Luft in Gläser und Flaschen hinein. Makarios gibt den „Howie“ bei den toten Katzen und beim Bücker-Kontest der Thüringer Fetischisten. Pichelstein führt Carpendales Refraingut in die Sangespausen ein. „Deine Spuren im Sand… Hello again... Wem erzählst du nach mir deine Träume? Nachts, wenn alles schläft… Tia mo… Ich sage dir: geh doch!“ Hach, wie herrlich. „Howie, Howie, Howie“, skandieren die Entrückten in der ersten Reihe. Ein Schnapsflaschenmann mit einer Schnapsflasche aus Schnapsmark, sprich: Dänemark kennt kein Erbarmen. Wieder und wieder wird das lauwarme Behältnis zum inhaltlichen Verzehr auf die Bühne gereicht. Ganz schwummerig um die Hüften geht’s für die Doctors dann in die Pause.
Wie gut, dass die vorab genossenen Gnocchis eine wunderbare Grundlage bilden. Sonst hätten alle am Ende noch Nüchternschmerz. Eine in Musikerkreisen sehr gefürchtete Gemengelage. Schlagzeilen wie „Trunken durch zu wenig oder zu schlechtes Essen von der Bühne gefallen“ lesen wir in vielen Blogs kleiner Sänger und Solisten. Sie sollen den Wirten eine Warnung sein. Denn von der Bühne fällt man nüchtern-geschmerzt sehr ungern.
Weiter geht’s bis in die Zugaben hinein. Bis die dänische Schnapsflasche alle ist, bis die Doctoren schwitzend in die Ecke fallen und der Majorlabel-Eddi im Geheimen verkündet: „EA 80 haben mir ein Lied gewidmet. Die sind gerade im Studio und da wird’s aufgenommen.“ Besorgt schaut sich Pichelstein darunter einen Barhocker an, der unter der Last seiner Bewohnerin zu bersten scheint. Der Hocker ist aus Holz. Da sieht man gleich jeden Riss. Wäre er aus Carbon, würde er sein nahes Ende verschweigen. Er bräche von innen nach außen langsam in sich zusammen und würde dann mit einem sogenannten „Hoppla-Effekt“ den zerstörerischen Ballast (mit den Tode ringend) von sich werfen. Wir wollen das nicht weiter ausführen, nur noch eine trunkene Idee des Schnapsmannes verraten: „Lasst uns Eddi vom Majorlabel eine Platte aufnehmen. Ich weiß, was der so hört, und jeder tut seinen Senf dazu. Ihr könnt schon mal was von Razzia einspielen…“ – „Ausflug mit Franziska: Alle Träume sind bezahlt, Schatz, das ist der beste Rotwein, den ich hier seit langem trank“, entgegnet Pichelstein wie aus der Pistole geschossen. Zeit ins Hotel zu gehen, das Ehebett wartet. Wie gut, dass kein Frühstück dazu gebucht wurde, denn der nächste Tag wird erst gegen elf am Mittag eingerummelt werden. Soviel Schlaf, verbunden mit kleineren Interludes („Herr Doctor, das ist meine Decke, Herr Doctor, kuscheln Sie sich nicht so ran…“) muss sein.
