Pratajev in Familie (305)


Freitagnachmittags gen Berliner Ring zu fahren, birgt Staus und Katastrophen. Die Menschen sind eben unruhige Geister, es scheint kaum welche zu geben, die mal gemütlich am Wochenende zuhause bleiben wollen. Nein, schon hängt die Arbeitskluft am Haken, hat Muttern Klöpse gebraten, dann alle ins Auto und schnell weg, egal wohin. Vielleicht an die Ostsee. Dafür hat man großes Verständnis. Denn im Gegensatz zur Nordsee ist auch immer Wasser da. Dazu zählt man auf den Straßen noch jene, die im Feierabendverkehr unbedingt noch einen Baumarkt erreichen wollen. Nur nicht mit der Frau oder dem Mann in die eisige Stille des Wochenendes verfallen. Besser hämmern, sägen, Sportschau gucken. Wer rastet, der rostet auf dem Kissen dahin. Und, was noch schlimmer ist: Wer zuhause bleibt, dem droht das größte Ungemach von allem, dem droht Besuch. In diesem Punkt kann man die Menschen verstehen. Besuch ist immer mit viel Arbeit verbunden, denn Besuch hat Hunger und Durst und spinnt oftmals großen Unsinn. Manche besuchte Menschen fahren am Montag wieder auf die Arbeit und fühlen sich danach so schwach, als wäre bereits wieder Freitag. Es sei denn, man bekommt lieben Besuch. Das ist etwas völlig anderes.

 

 

Trotz des hohen Verkehrsaufkommens, das die Doctors mit Umwegen über eine possierliche Stadt namens Wolfen gezielt meistern (Die Verb-Ableitung „wolfen“ steht auch synonym für „anbaggern“), ist bereits nach zwei Stunden der Abzweig Oranienburg erreicht und das Löwenberger Land nicht mehr fern. Teschendorf heißt das Ziel der Reise; die Doctors sind – ohne, dass es der Gastgeber weiß – zu Joachims 65. Geburtstag eingeladen. Seit Jahren kennt man sich bereits von großen und kleinen Festen und Konzerten in Brandenburg und Berlin. Mancher Kümmerling wurde darunter bereits mit Freuden verzehrt. Gezielt vom Nachwuchs verführt, bzw. auf „Pratajev-Linie“ gebracht („Jeder Schluck ist ein guter Schluck“), kennt die Begeisterung für die Doctors weiter keine Grenzen. Selbst die Oma kann manche Weise auswendig singen. „Frank Schöbel in Familie“ war gestern – heute heißt es hoffentlich allerorten: „Pratajev in Familie“.

 

Der Empfang ist wunderbar; die Überraschung gelingt und erst nach ein paar kräftigen Herrenknuffen wird die Fassung wiedererlangt. Einer Führung übers Idyll, vorbei an Hühnern, Hund, sehr wohlgenährter Katze, Obst- und Gemüseplantage, folgt die erste Wodka-Bowle, dann die zweite und schon steht das Vorprogramm Spalier. Es ist der Männergesangsverein Concordia Teschendorf mit einem zünftigen Repertoire. Alte Hasen, die es können. Nach wie vor besteht der große Wunsch nach einer gemeinsamen Studioaufnahme. Es müsste sich dabei um ein Schnapslied handeln, denn dieses Sujet lieben beide: The Russian Doctors und der Männergesangsverein. Yeah! Um es mit den Worten der Puhdys zu sagen.

 

 

Hinein geht’s zu Speis und Trank. Vom Reh bis zum Fisch über das Schwein ist alles dabei. Fürst Fedja, eben erst aus Weißrussland zurückgekehrt, kommt langsam wieder zu Kräften. Die Doctoren Makarios und Pichelstein schielen schon mal auf den Kuchen, auf die Torte, den Nachtisch. Doch will man gleich singen, geht derlei erst später hinein. Und so schraubt die Gemeinde schließlich die Bühne zusammen. Es werde Licht, der „Rotarmist“ erklingt. Heute gibt’s ein Set ganz ohne Vorgabe, heißt es plötzlich nach Jahren wieder live „Gelber Schnaps und selbst gebrannt / Besseres ward nie gekannt“. Pratajev-Mitglied „METchen“ sorgt ohne Unterlass für diverse Ausgeburten der Kräuter aus dem Wald, serviert in kleinen Gläsern. Die Abmachung lautete wohl anfangs noch: „Nach jedem Wort mit Schnaps gibt’s davon einen auf die Bühne“. Aber das ist nicht durchzuhalten. Der zweite Deal rettet vermutlich den nächsten Tag: "Nach jedem dritten Lied dann Prost". Und auch „saúde!“, denn portugiesische Nachbarn sind anwesend. Welch ein Glück, Menschen aus dem erklärten Lieblingsland beider Doctoren in Brandenburg zu treffen. Baumfreund Ekmel, Jimi Quickström und das ganze Gartenvolk trinkt mit.

 

Die Sausen der Doctors gehen in die verdiente Schnaufpause und nach diversen Kaltgetränken sollen es eigentlich nur noch vier Lieder sein. Doch am Ende werden es satte 16 Zugaben. Somit dürfte Joachims Gartenparty in diesem Ranking führend sein. Und auch sonst bedanken sich die Erben Pratajevs für diesen feinen Ausflug ins Teschendorfer Idyll. Es war uns ein Fest, euch auch. Das muss so sein, denn Feste soll man besuchen. Da muss man hin! Nur noch schnell an die Torte, noch den ein oder anderen Schnaps, dann nichts wie rein in die Ortspension. Doctor Makarios belegt das Kuh-Motivzimmer, Fürst Fedja samt Doctor Pichelstein bekommen es mit Katzen zu tun. Katzen auf Fahrrädern als Hinstells, als Fußabtreter, Figuren, auf Bildern, ganz kleine, ganz wilde und vor lauter Katzenzählen übermannt einen plötzlich Gevatter Schlaf.

 

Reg dich nicht auf, wenn es mal regnet  (304)


Wieder einmal wird der Versuch unternommen, Holland vom Tomaten-Weltmarkt zu verdrängen. Von gleich zwei Balkonen und zwei Dachterrassen greift das nächste Doctors-Umfeld an. Doch selbst wenn Oranje auch in diesem Jahr nicht in die Knie geht, so dürfte bei allem Verzehr der gesunden Produktpalette (von rot nach schwarz bis gelb und bunt) besagtes Umfeld gesund und munter in den Herbst stürmen – zumindest wird sich die schnapsgeschuldete Übersäuerung in Grenzen halten. All das ist Thema auf der Fahrt Richtung Pirna. Von Hungerästen ist ebenso die Rede; der BMW eilt allen davon und steht nach knapp über einer Stunde vor der Langen Straße 36, Routennummer 5 auf dem von der Kultur- und Tourismusgesellschaft Pirna mbH angefertigten Kulturflyer namens „Hofnacht“. Oh, wie oft waren die Erben Pratajevs schon hier und immer ging es heiß her. Bis spät in der Nacht den Restbeteiligten stets ein schiefer Turm gewahr wurde. Der schiefe Turm von Pirna. Es wuchs mit den Aufgaben, den Getränken und Rauchwaren. Er wuchs mit den Reden darüber, heilsame Betten gleich erklimmen zu wollen. Aus Dingen in unmittelbarer Nähe wurden weit entfernte Planeten. Dann fiel er um, der Turm und mit ihm der Gast, spie noch ein wenig und weg war die Last. Wollen wir es gleich vorweg nehmen: auch am Tag 1 nach der Hofnacht 2014, bevor die Doctors schweren Hauptes die Heimreise antraten, musste man auf dem Geh- oder besser Stolperweg aufpassen, nicht in derlei Ausgeburten hineinzutreten.

 

 

Schwül ist die Wetterlage, glimmend heiß ihr Gemüt. Fürst Fedja, Ulf, der stets edle Mann, beide Doctors schleppen sich einen Schwitzkasten. Ähnlich wie neulich am Albrechtshainer See geht es zu, nur dass bald schon das Unwetter naht. Gerade, als die Bühne steht, der Soundcheck gelungen ist, prasselt es nur so herab. Und obschon eilig eine dicke Plane übers Sonnensegel, über den Hof gezurrt wird, schießen nasse Bäche direkt in die Technik hinein. Keine Steckdose bleibt trocken. Doch weil darauf stante pede der Himmel wieder mit heizender Sonne überrascht, kann zwei Stunden später an den Beginn der Hoffestspiele gedacht werden. „Reg dich nicht auf, wenn es mal regnet“, getreu diesem Pratajev-Motto sorgt man dafür, dass es so sein wird. Und trinkt erst mal einen guten Schluck.

 

 

Unten an der Schänke stehen die Menschen bereits Schlange, Soljanka-Düfte locken sie zu hunderten her und als das Gedränge immer heftiger wird, entschließen sich die Doctors mit den „Feldmännern“ Gas zu geben. Auch heute wird’s ein Saunagang, reißen sogar Gitarrensaiten unter all der Feuchte, spielt sich Doctor Pichelstein in einen Pratajev-Rausch hinein, während Doctor Makarios' textliche Ausflüge unerwartete Spitzen einnehmen. Eine Insel der Liedbeständigkeit taucht ja bei keinem Doctors-Konzert auf. Der große Bob Dylan lässt grüßen. Zwischendrin schwappt immer mal wieder eine große Galone Regenwasser, das sich auf dem Plastedach ansammelte, aufs Publikum herab und so ist für Abkühlung und spitzte Schreie gesorgt. Fürst Fedja, Versorgungsgetränkeoffizier der Erben Pratajevs, reicht gefüllte Gläser zur Bühne. Nicht jedes erreicht den richtigen Adressaten.

Pause muss sein, Doctor Pichelstein ist froh über das vom Fürsten ausgeliehene lachsfarbene Frotteehandtuch. Nach eifriger Benutzung sinkt es schwer zu Boden. Dann geht’s weiter an der Russenfronst, der „Wanderer“ fällt einer erstaunlichen Darbietungsvariante anheim, „Beim Bücken“ wird zum Kinderlied im doctoresken Falsett und insgesamt ist’s eine feine Sause, die noch Stunden später nicht zu Ende ist. Was man von der Kaisermania, der heutigen Konkurrenz der Doctors im benachbarten Dresden, nicht behaupten kann.

 

Unterkategorien