Flachetappe nach Torgau (296)


Große Ereignisse werfen fürwahr ihre Schatten voraus. So lautet der beliebte Rennbericht der Tour de Docteur: Heute Flachetappe nach Torgau. Der Fahrerpulk wird in rasender Geschwindigkeit gegen 21:00 Uhr die Ziellinie an der Kulturbastion erreichen. Wahrscheinlich wird das Team Russian Doctor einen Ausreißversuch starten, um den Sieg vom Vorjahr zu wiederholen (…)

 

Bis dahin ist es noch ein Weilchen. Um 17 Uhr rollt das Tourgefährt mit seiner wertvollen Fracht an der Verladestation Dr. Pichelstein gen „Nordelbien“. Ein Wort, aus dem die automatische Rechtschreibkorrektur gerne „Nörgelelbien“ machen würde. Doch das lassen wir nicht zu. Die Menschen im Landkreis TDO sind allesamt freundlich. Zumindest jene, die sich mit Pratajevs Werk und seinem Leitspruch „Jeder Schluck ist ein guter Schluck“ befassen, The Russian Doctors in ihrem Terminplan stehen haben und wissen, dass das TV-Endgerät heute kalt bleibt.

 

Über staubefreite Umwege, die gefürchtete B87 („Spiel mir das Lied vom Kreuz am Wegesrand“) genauso wie manche Biogasanlage hinter wie neben sich gelassen, wird die Kulturbastion Torgau erreicht. Als musikalische Untermalung diente eine Kassette mit Demo-Liedgut der Modern Doctors, welches im Laufe der nächsten Gezeiten gerne einer Studiovertonung unterzogen werden könnte. Besonders stolz ist Komponist Doctor Pichelstein aufs eben ersten gelungene „Auf dem Kanapee ein girl, Teil 4“. Mehr sei dazu noch nicht verraten. Denn heute soll es keineswegs modern zugehen, sondern russisch und natürlich im Geiste Pratajevs. Na dann: Wohl bekommt’s. Drinnen wird Kino-Popcorn angerührt, draußen schmaucht man Kippchen und Fürst Fedja liefert die Hotelschlüssel.

 

 

Im mit reichen Wanderergaben befüllten Backstage hängt nach wie vor ein Poster des US-amerikanischen Rockers Richie Kotzen. „Möchtest du so heißen?“ – Eine wie immer viel diskutierte Frage vorm Soundcheck. Dann bittet der Tontechniker zum zungenlösenden Tanz, die Bühne ist angerichtet. Zeit für Doctor Pichelstein, den Watzmann bis nach Oschatz zu zersingen. Doctor Makarios schlägt dagegen jeden Kaisermania-Parvenü um Längen. Man muss wissen: Bühne aufbauen ist ein reiner Multitasking-Overkill. Wer danach noch schön singen kann, hat’s raus und die Lebensfreude gepachtet. Gut so. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen, wieder ab ins Backstage auf leckere Schnitzelteller plus Beilagen. Wenig später heißt es darin: „Hoch die Tassen – Schwarzbrenner Gurt Kaktus ist da“.

 

Nach üppiger Begrüßung, nebst Rückgabe einer gläsernen Tortenplatte zum 10-jährigen Doctors-Jubiläum vor einem Jahr, wird tatarisches Gebäck nebst Apfelschnaps gereicht. Genauer: Ein „Campa“, hergestellt nach einem Originalrezept von Helga „Peitscha“ Bauer“. Und der hat es in sich. Fürst Fedja ist gleich hin und weg, der Schluckzähler rattert. Doctor Pichelstein genießt in Maßen, ja, er kennt die Tücken der schwarzen Schnapsmagie nur zu gut. Dann füllt sich das Rund zu aller Zufriedenheit; im Kino gehen zudem Lichter und Popcorntüten aus. Mögen die Spiele also beginnen. Das Intro im knackigen Dolby-Surround weist den Weg, los geht’s mit idyllischen Feldmännern über Applaus, Löffel und Stein. Nassforsch erklärt dazu Doctor Makarios das lyrische Raster Pratajevs, all sein rühmliches Wirken und Werkeln. Erste Besucher klagen über „Schnapsrücken“ (eigentlich, zu Deutsch: „Bierrücken“) und prusten allerlei Daseinsfreude heraus. Peter aus Wismar (Speckstein-Pokal: weiteste Anreise) tanzt den Stulpenarmtanz und immer wieder heißt es: „Doktor Pichelstein, der schnellste Akustikgitarrist von….“ Und immer wieder gibt’s zur Belohnung dafür Helga Bauers „Campa“. Tücken hin oder her.

 

 

Pausepustend, im Schwitzshirt hockend, stellt Doctor Pichelstein fest, dass einskommafünf Flaschen bereits leer sind. Doch darüber den Satz des unbekannten Dichters: „Ich war so am Boden, ich konnte einer Ratte ins Arschloch schauen“ zu bemühen, ist fehl am Platze. Auf geht’s zur zweiten Russian Doctors-Runde. Doctor Makarios hat einen Rotarmisten gesichtet. Grals-Lyrik gibt es zum Besten, saftige Wiesen, russische Felder auf denen gewandert und Spaten und Sensen geschwungen werden. Pichelstein erreicht den Turbo-Konzertzenit mit dem „Biber“. Fürst Fedja sinniert: „Geht doch gar nicht mehr schneller“. Noch ein „Campa“ - weckt die Helga Bauer tief in dir. Wir erinnern uns an einen ihrer Gedichtbände. Er trug den verheißungsvollen Titel „Die Peitsche hat ihr gut getan“. Für die letzte Schnapsbar gilt dasselbe? Nee. Das Kulturbastionsvolk will noch einmal „Jeder Schluck ist ein guter Schluck“ hören, dann dies und das und das und jenes. Und wann auch immer, jedoch sehr viel später, hocken die letzten Aufrechten an der Bar beisammen. So ist es noch erinnerlich und kein Mann in Weiß steht Pate.

 

Médaille d'or de tour de télévision (295)


Die heutige Etappe beginnt im Leipziger Fußballstadion, Red Bull-Arena genannt. Gemeinsam mit Familie B aus C sorgt der Pratajev-Tross im Block für Aufsehen. Leger is lediglich Doctor Makarios bekleidet; der Rest trägt Eishockey-Fanschals (Fürst Fedja: Neman Grodno, Dr. Pichelstein: Icefighters Leipzig) und am Ende siegt das Heim- (Trend) gegen das Roadteam (Tradition) mit 2:1 Toren. (Trend und Tradition sind übrigens deshalb in Klammern geschrieben, weil auf Plakaten zu lesen war, dass Tradition gut ist und Trends das glatte Gegenteil sind. Um es mal sehr nett auszudrücken. Aber im Kinderfernsehen würden die coolen Moderatoren gewiss ähnliches erklären). In der Halbzeitpause darf ein 9,50 Euro-Gewinn am Getränkestand erwirtschaftet werden. Gegenteiliges wäre beinahe 45 Minuten in Sachen Ersteinkauf geschehen. Da wollte die Verkäuferin pro Colabrause statt drei gleich 12 Euronen einstreichen. Früher gab es bei derlei Unvermögen traditionelle Taschenrechner oder mathekundige Souffleusen in Kassennähe. Alles wegrationalisiert. Nur noch Trend, furchtbar.

 

 

Gleich nach dem Schlusspfiff gewinnt die Etappe an Gewicht. Nachdem die Vorentscheidung beim Rennen um das goldene Schnapsglas zugunsten der Doctors bereits gefallen ist, heißt das Ziel heute Berlin, wurde dafür eigens die „Médaille d'or de tour de télévision“ kreiert und ausgelobt. Also nichts wie los bei Hasenwetter, vorbei an Hundertschaften Polizei zum Autobahnbeginn gerast, Bockwurst-Stopp am Fläming, Berliner Ring, Abfahrt Wedding, dann die Makarios-Notenspur (Weltkulturerbe in spe) entlang, Torstraße, Ackerstraße: Schokoladen-Mitte! Auf den Punkt genau, 18 Uhr, wie zugesagt, stehen die Doctors in ihrem Hauptstadt-Wohnzimmer, direkt vorm Club fand sich gar ein Parkplatz. Das gab es in Berlin noch nie.

 

Fieberhaft regelt der Mix-Headcoach, unter Zuarbeit des Doctor Pichelstein, Bühnenklänge ein, während die Herren Makarios und Fedja die Merch-Ecke mit Produkten aus dem Hause upArt bepflastern. Der Soundcheck ist ein Kinderspiel und so lockt ein üppiger Pizzakarton zum Mahle, werden Getränke wie Zahnstocher zum Munde geführt, öffnet die Kasse, strömen die Menschen ins Schokoladen. Um Schlag 19 Uhr herrscht Trubel wie auf einem türkischen Basar. Brandenburger Wiedersehensfreuden sind besonders toll; die Heimat Helga Bauers ist zahlreich vertreten und wie so oft gibt’s frische Chor- und Fischanekdoten (Hecht über drei Grundstücke gejagt). Pratajev-Mitglied „Meetchen“ trägt heute den Augenöffner „Sehr dralle Schwesternschülerin“ in der Karneval-Lidl-Kollektion spazieren. Während Langzeitberliner in artigen Reihen an der Schnapsbar stehen, Eademakow schwört, den mitgeführten Fotoapparatschik heute gewiss nicht zu verlieren und Dr.h.c.mult. Mary Fiction französische Kippen spendiert. Dann der Startschuss, das Intro läuft. Lasst die Fesselspiele mit rund 75 dB am Pult beginnen. Ab 19:30 Uhr gilt’s; die lauteste und vor allen Dingen schnellste Lesung der Welt macht das Rennen auf dem steilen Weg zur Médaille d'or de tour de télévision. Gleich zu Beginn mutieren Tanzbeine zu schlotternden Knien; von Affekten gebeutelt muss mancher Schnaps der Verzehrung anheimfallen. Winogradow legt galant einen heißen Jägermeister-Tablett-Stepp aufs Parkett, denn: Jeder Schluck ist nun mal ein guter Schluck. Pausen gibt‘s heute nicht, dafür gelungene Publikums-Choräle und wieder einmal ist’s sehr schade, keinen Tontechniker für eine Live-CD an Bord zu haben. „Beim Bücken“ und „Tote Katzen im Wind“ gehören zudem längst in der Mailänder Scala aufgeführt. Mindestens. Aber wenn, dann nur mit dem Schokoladen-Volk vorm Mikro.

 

 

Nach knapp zwei Stunden schlägt die erste Schnapsbar wie ein Meteor ein; frenetisch ist der Zugabejubel. Doch, geschuldet der dezibel-verliebten Nachbarschaft, finden die letzten Pratajev-Weisen ab 22 Uhr nur noch im geschätzt 25er-Soundbereich statt. Das ist eben so, da kann man nichts machen und froh ist man dennoch allemale, in Berlin-Mitte überhaupt noch konzertieren zu dürfen. Wir kennen es aus Leipzig, wo bravliberale, Grün wählende Bürger sich mitten in der topsanierten Stadt (sie können es sich ja leisten) niederlassen und laut klagend bei Gerichte um Beruhigung ringen. Zunächst ist der Schwerlastverkehr dran, dann werden die Liveclubs bekämpft und am Ende herrscht totenstille. Bis die Kinder groß sind und nichts wie weg wollen aus diesem Elendsviertel. Nach Berlin, ins Schokoladen wird es sie dann ziehen, natürlich. In diesem Sinne noch eine allerletzte Schnapsbar, dann keuchen beide Doctors strauchelnden Ganges schwitzend in die Menge und sehen unterm Schummerlicht dabei aus wie weichgezeichnet.

 

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