tour_tagebuch
Kabelmassage mit Happy End (322)
Das Ramada-Hotel in Laubegast ist für musizierendes Reisevolk zu empfehlen. Frühstück gibt es fürwahr an Wochenenden morgens bis halb 11! Da ein gesunder Doctorenschlaf ungefähr auch um diese Uhrzeit endet, passt das Timing zur Bäuchebefüllung gut. Rasch werden letzte Buffet-Reste in der Fahrstuhletage Null auf Teller geschaufelt, Kaffeekannen geordert und schon darf die Zeit verstreichen. Draußen scheint jene Sonne, die die Doctors gestern mit zum Elbhang brachten auf kleine Taten, die nun folgen, bis der BMW, wenn auch reichlich lädiert, in Wachwitz eintrifft. Denn in Wachwitz lässt die Grottenwirtschaft Hof halten. Um 15 Uhr sollen die Erben Pratajevs konzertieren.
Die Frage, warum „der BWM reichlich lädiert“, mit Fernlichtverlust rechts und eingedrückter Front, daherkommt, hm, die kann hier gar nicht beantwortet werden. Fragen Sie einfach den Fahrer. Wohingegen die Bemerkung „kleine Taten, die nun folgen“, mit einer Weltreise auf die andere Elbeseite nach Loschwitz, später dann nach Wachwitz, untrennbar verknüpft ist. An der Haltestelle, im Linienbus lassen Sätze freundlicher Menschen wie „Mutti, guck mal, das sind ja die Russian Doctors!“ Oder: „Na Jungs, ausgeschlafen? Sehen wir uns gleich an der Grottenwirtschaft?“ vermuten, dass eine gewisse Freude darüber herrscht, dem wandelnden Weltkulturerbe Pratajevs beim Schnaufen, Laufen und Sitzen zusehen zu dürfen.
Schon ist es halb drei, schon herzen sich die Herzchen mit großem „Hallo“ und „Holloröhdulliöh“. Fischsemmeln, leckere Suppen und Schmalzbrote werden verteilt, an der Draußenbar gibt’s flaschenweise Kaltgetränke und da die Doctors heute Abend nicht mehr nach Hause fahren werden, schlagen alle zu, als gäb es kein Morgen. Mister Sunny Side Up singt den Bluesrocker „Black Velvet“ von Alannah Myles. Der Schedule hängt etwa 30 Minuten hinterher, doch das macht nichts. Hier im Schatten der Grottenwirtschaft, wo die Heppmepps (wie wird denn das bloß richtig geschrieben?) und Hühnerschecks mit be-hüteten Menschen drauf vorbeiknattern. Am Merchstand der Doctors werden derweil Tonträger verteilt, denn nicht jeder CD-Käufer war am gestrigen Loschwitz-Abend noch in der Lage, Verpackungsinhalte zu prüfen, wollte den folgenden Tag musikalisch wertvoll beginnen, und staunte darüber, dass das erst mal nichts wurde.

Die Anlage zur Beschallung des Publikums ist vom Feinsten, gleich drei dynamische Techniker werden aufgeboten und entsprechend rasch steht einem gottergebenen Konzert der Doctors nichts mehr im Wege. Das Intro läuft, es gibt einen Knall (so „puff“ halt) und schon sagt ein Doctor zum anderen: „Irgendwas stimmt nicht so ganz…“ Und tatsächlich: Beiden Gitarren ist kein Laut mehr zu entlocken. Während Makarios die kleine Katastrophe galant mit pratajevschen Anekdoten überspielt, begibt sich Pichelstein, besorgt am Schnapse nippend und umringt vom Techniker-Know-How, auf Fehlersuche. Batterien? DI-Boxen? Signal zum Pult? Effekt- und Stimmgeräte? Stromzufuhr? Kabellage? Kabelmassage? Tata! Es streiken (erstaunlicherweise) die von den Gitarren wegführenden Instrumentenkabel. Beide erlitten in Minute 1 des Intros Brüche und müssen ausgetauscht werden. Yes und Ja und Yippie. Schnell einen lauwarmen Underberg und dann geht’s.

Und wie es geht, denn „it goes los“ mit den Doctors an der Grottenwirtschaft. Schweißtreibend, singend, trinkend, lachend, über drei Schnapsbars in den Zugabereigen hinein - da die Ärzte-Beipackzettelhelden von Cosmic Noise bereits verständlicherweise mit den Hufen scharren, müssen zwei Stunden Pratajev-Lehre heute reichen. Die Füße dampfen, der Bühnenumbau folgt auf der Socke, hernach darf ge-chillt werden, wie es seit einiger Zeit heißt, wenn man locker-flockig in der Ecke hockt und das Leben an einem vorüberzieht. Man macht quasi „einen auf Altersheim“. Und wie es zieht, das Leben, Stunde um Stunde vergeht, eine letzte Runde gibt’s mit dem Orga-Team der Grottenwirtschaft bis die letzte Elbefähre die Doctors zur Heimstatt Laubegast übersetzt. Was für ein Tag. Dafür einen erneuten Babberschmatz.

Babberschmatze finden gewiss nicht auf RTL II statt (321)
Fürst Fedja hat Tee in der Pensionsküche gekocht. Tee soll gesund sein, aber um einen solchen Aspekt geht es auf einer Tour am allerwenigsten. Und zwar in sämtlichen Belangen. Wenn die verschiedenen Hausärztinnen der Doctors wüssten, was alles in wenigen Tagen ungesundes verbrochen wird, Himmel, es gäbe ordentlich Pranger-Schimpfe, Vorsorgeuntersuchungen und den Rat, sich wochenlang bei Wasser und Brot zu entspannen. Nun denn. Der Kaffee ist einfach alle und so zieht es den leicht angefrischten Pratajev-Tross zurück in den Wald. Knusperig geht’s beim Frühstück zu. Jede noch so charmante Frage („Kann es sein, dass der Kaffee alle ist?“) wird durch warme Gastfreundschaft herzlich und voller Tatendrang beantwortet.
Dann geht es nach Dresden-Laubegast, zum Ramada-Hotel, dem Verweilort für die nächsten beiden Tagnächte. Wir schreiben das mittlerweile 25. Elbhangfest. Es ist Samstag und gegen 20 Uhr wird an der Alten Feuerwache Loschwitz (warum eigentlich nicht Löschwitz?) konzertiert. Da die Uhr nach dem Einchecken in die gut gelüftete, akribisch aufgeräumte Nichtraucheretage Nummer 3 aber erst 15 Uhr anzeigt, verwandeln sich die gebuchten Zimmer 310 und 311 für die nächsten zwei Stunden in das genaue Gegenteil des Eintreffstadiums.
Man liegt herum, schaut RTL II und kann einfach nicht eindösen, weil das Programm so spannend ist. Du liebe Güte, was es alles nachmittags auf RTL II wegzuschauen gibt. Da werden schlimmste, dauernd dumme Menschen, Protagonisten, die man nicht einmal auf der Mc-Partnerbörse Sparship antreffen würde, wohnend präsentiert. Wohnend! Und eine der vielen Bettdecken in der Schimmelmitte trägt folgende Aufschrift: „Home sweet home“. Es tropft von der Decke, das gehbehinderte Kind im stets platten Rollstuhl schläft im Aquarium. Die dort sonst beheimateten Fische wurden kurz vorm Dreh noch mit Unkraut garniert und roh gegessen.
Tja und dann kommt ein Trupp munterer RTL-II-Handwerker, setzt die Großfamilie Buhmann in einen Bus und weg ist sie. Bis aus einer (Pichelstein hat beim Sächsischlernen gut aufgepasst) Hornzsche eine ganz tolle IKEA-Behausung wird, in der sogar am Ende das Klo funktioniert und das gehbehinderte Kind – Großfamilie Buhmann traf unter großem Hallo einiger Statisten, die sich als Nachbarn ausgaben (unglaubwürdig!), mittlerweile wieder ein - ständig „Oh, mein Gott!“ ruft.
Das Kind zeigt aufs Klo, es drückt die Taste. Wasser kommt heraus und fließt ins Becken. Für die meisten Bewohner Deutschlands ein gewohnter Vorgang. Nicht aber für Großfamilie Buhmann. In den letzten Jahren ihres Lebens musste jeder, der es konnte, den Duschschlauch von der anderen Wandseite zur Fäkalienbeseitigung nutzen. Bis auch der Schlauch über den Jordan ging und nur noch Geld für Pommes übrig war. Doch dann kam RTL II… Fürst Fedja und Doctor Pichelstein durchleben ein Gefühlschaos. Buhmann-Mutti (sieht schwanger aus) und Tochter (ist schwanger von unbekannt, Vermutung Fürst Fedja: „Die hat sich doch irgendwo reingesetzt“) weinen hemmungslos vor Glück. Der Opa hat sich vor Schreck hingelegt, die Oma kann es nicht fassen, dass man in einem Spülbecken sogar Geschirr abwaschen kann, ohne, dass einem vorher eine braun-schwarze Plörre aus dem Ausguss auf die Kittelschürze spritzt.
Gefühle zu bedienen, das bezweckt RTL II. Besser, man lacht über sowas und verdrängt damit die aufgezwungene Rührung. Draußen regnet es in Strömen, eine grau-beige Busladung "Kaffeefahrt Elbtal" rückt ans Ramada heran. Es regnet auch noch, als die Doctors das Hotel verlassen. Doch je näher sie der Alten Feuerwache kommen, umso blauer wird der Himmel. Anders als in den letzten Jahren wird heute kein Regenguss beim Konzerto Furioso niedergehen. Der deutsche Bürokratentraum heißt wie eh und ja auch am Elbhang „Ausnahmegenehmigung“. Mit einem derart bedruckten Pappschild braust Fürst Fedja im Russen-BMW durch die schunkelnden Massen bis hin zum Ort des Geschehens.

Auf zur freudigen Team-Begrüßung, zum Grillstand, zum Becherovka-Wagen und ganz nebenbei wird die Bühne hergerichtet. Techniker Eric und Doctor Pichelstein sind mittlerweile ein eingespieltes Etwas. Gemischt wird heute von hinter der Bühne, denn vorn hat der Regen bereits Spuren hinterlassen und Kabel im Matsch sind kein Vergnügen. Aus Pirna reist das Annchen an und steht damit stellvertretend für all jene, über die sich die Doctors herzlich freuen. Sogar große Mannschaftsteile des Elbhangfest-Drachenbootes „Tote Katzen im Wind“ aus dem Jahr 2005 sind vertreten. Es dauert nach dem Soundcheck gefühlt nur wenige Augenblicke, dann ist der Feuerwachengarten bis zum letzten Stehplatz gefüllt. Wahnsinn. Das kann es nur in Dresden geben. In der Stadt, in der auch heute das Eis noch einziehen wird. Der Regen indes weiterzieht gen Erzgebirge. So plötzlich.

Anpfiff. Das Intro läuft, eine letzte Zigarette, ein letzter Schnaps, die ersten Kameras der Youngsters und Veteranen im Publikum sind auf die Bühne gerichtet. „It goes los“, wie Doctor Makarios kurz vorm Auftritt gerne zu sagen pflegt. Pichelstein stolziert zur Gitarrenecke, Makarios richtet das Stativ, das Mikro aus und schon stehen alle am Feldrand, tanzen sich nach Bolwerkow durch, nach Kolsnowo-Parputsk, nach Miloproschenskoje. Holzlöffel werden im Abendhimmel geschwenkt, Köchinnen outen sich und sogar ein Tierarzt gibt sich live und in Bunt zu erkennen. Der Umsatz am Merchstand erreicht bereits nach einer Stunde Höchstwerte – na, welcher musikalische Elbhangbeitrag hat schon einen selbstgebrannten Schnaps namens „Milzbrand“ im Petto? Genau, niemand. Die Kollegen wollen immer bloß und ausschließlich Tonträger verkaufen. Tipp am Rande: Wer Milzbrand trinkt, ist sofort glücklich. Da fällt die weitere finanzielle Veränderung des Abends (Tonträger, Bücher, T-Shirts, Tassen, Schlüsselbänder und was es alles gibt) umso weniger ins Gewicht.

Natürlich gibt es heute keine Pause, ein ums andere Mal wandert Doctor Makarios in bisher noch nie dargebotene, russische Erzählweiten, verbunden mit den Weisen Pratajevs. Ein ums andere Mal werden Becherfüllungen auf tanzende Menschen gerecht verteilt, doch sie liegen sich rasch wieder in den Armen.
Wenn man bedenkt, wie schlecht die Welt doch ist, wenn man bedenkt, dass RTL II nur ein gütiger Tropfen auf den brodelnden Stein der Nicht-Weisheit sein kann, um sie, die Welt, ein wenig besser zu machen, dann darf jeder froh sein, die Lieder der Russian Doctors zu kennen. Ein Konzert der Erben Pratajevs während einer Krisensitzung im Europäischen Parlament würde sogar Griechenland retten. Dank Milzbrand. Und Danke, liebes Publikum an der Alten Feuerwache Loschwitz. Soviele Zugaben. Soviel Schnaps. Soviel Jubel. Soviel Ihr. Kommt bloß immer wieder. Ein Babberschmatz Euch allen.
PS: „Ohne jetzt zu wissen, was Babberschmatz genau bedeutet. Klingt aber sehr schön und kommt auf RTL II sicherlich nicht vor“ (O-Ton Doctor Pichelstein).
