Auf dem Vulkan (301)


Der Tag beginnt äußerst beschwerlich. Im Nachbarhaus der Pratajev-Zentrale spielen sich am frühen Mittag ohrenerschütternde Szenen ab. Jemand versucht sich auf einer Reinhard Mey-Gitarre Metal-Riffs beizubringen. Klingt ungefähr so, als würde man zartes Blockflötenspiel mit dem auf einer Mundharmonika verwechseln. Ein Novum gibt es auch: Die Doppelspitze der über Nacht gebliebenen Chemnitzer Pratajev-Freunde blickt erstmals seit Jahren wieder optimistisch in den Kaffee. Leer ist der sonst so umworbene rosa Nachteimer, sorgfältig vom Doctor Pichelstein stets ans Bett gestellt. Stunden sind es jetzt noch, bis Fürst Fedjas Tour-BWM anrollt, der Petersberg bei Halle soll am Abend erklungen werden. Sven und die Umstände seines Geburtstages sind der willkommene Anlass.

 

 

Gar nicht so einfach ist‘s, den Berg von der Autobahn kommend, hinauffahren zu dürfen. Auf demselben Breitengrad findet die nächsthöhere Gesteinserhebung vermutlich erst im Ural ihren Meister. Über verschlungene Schotterwege, eigentlich dem landwirtschaftlichen Verkehr gewidmet, geht’s hinauf Richtung Vulkanspitze zur Waldbühne, dem Auftrittsort. Nach kurzem Hallo, ersten Kaltgetränken, führt Kultursekretär Makarios die Seinen zum Klosterstift nebst romanischer Basilika. Ausblick wird gehalten. Einst befand sich neben dem Mönchsbau eine Ausflugskneipe, doch im Sinne der „Inneren Einkehr“, die man hier gerne auch ein Leben lang finden kann, musste dieser Ort der furchtbaren Fröhlichkeit nach der Wende weichen. Zumeist Pilgerautos mit bayerischen Stadtkennzeichen werden ausgemacht. Ihre Besitzer folgten dem ultimativen Glauben ans Utopische und suchen nun darunter ihr Heil, welches weder im Freudenhaus noch bei Angetrauten zu finden war. Das mag eine Vermutung sein, doch genauso sehen sie halt aus, die verhärmten Besitzer der bayerischen Autos. Dann geht’s zum Selbstbedienungsgrill; Fürst Fedja ist ganz in seinem Element und beschert Makarios und Pichelstein volle Backen. Erneut lernt Doctor Pichelstein eine Schippe Kaufhallensächsisch und das WM-Vorrundenspiel Deutschland gegen Ghana beginnt zeitgleich mit dem Konzert.

 

 

Anfangs sehr schüchtern, dann jedoch keinem Gedanken mehr an das zwischenzeitliche 2:1 für Ghana nachhängend, geht’s Publikum vor den Doctors zu Werke. Ohne Pause (auch auf dem Petersberg sind sie gewiss präsent, die schwabenähnlichen Ausgeburten) wird bis zur Verlängerung durchgespielt. Mittlerweile steht es pari pari in Brasilien, die letzte Zugabe und der letzte Becher Birnenbrand sind verzehrt, da wollen die Doctors doch mal wissen, wie man auf einem alten Röhrenfernseher WM schauen kann. Das Ergebnis ist verblüffend. Ein Tablet-PC (oder gar nur ein Smartphone?) dient als Ausgangsmaterial. Die darauf erzeugten Bilder werden von einer davor platzierten Kamera erfasst und in das TV-Endgerät aus den 80ern überführt. Der Tablet-Bildschirm muss alle paar Minuten berührt werden, sonst wirkt der Sparmodus nebst Bildverlust. Mit dem W-Lan ist es auch so eine Sache: Ghana stürmt in der letzten Minute nach einer deutschen Ecke mit Mann und Maus Richtung Tor und? Jedenfalls kein Tor, wie sich später herausstellt. Darauf einen Abschiedsschnaps, denn dass dieser heute nur gezielt einzusetzen war oder ist, mag dem gestrigen Jubelkonzert im Waldfrieden geschuldet sein.

 

Besser als Weihnachten (300)


Es ist soweit. Zum 300. Mal jagen die Russian Doctors dem Zielstrich entgegen. Diesmal geht es um den „Großen Preis der Messestadt", ein Kriterium auf absolut flachem Terrain. Start und zugleich Ziel: 20 Uhr im schönen Biergarten der Gaststätte Waldfrieden in Leipzig-Connewitz. Sprinterqualitäten, Ausdauer und Flexibilität werden das Rennen entscheidend prägen und am Ende kann es nur einen Sieger geben: The Russian Doctors…. Diesem elementaren Lockruf folgen erfreulich viele Menschen. Rasch füllt sich der Garten unterm tiefblauen Himmel. Schnell rennen die Kellner, noch rasender kann nur ein Doctor Pichelstein sein. Man stelle sich vor, der würde in seiner kargen Freizeit auch noch Gäste bewirten. Niemand auf der Welt müsste mehr hungern und dürsten.

 

 

Die Bühne ist bereits angerichtet, die Technik vervollkommnet. Zum 300. Mal stehen sie nebeneinander auf einer Doctors-Bühne und fühlen sich überaus locker im Stande, dem Biergarten Leben, Schnaps und vor allem Pratajev einzuhauchen. Letzte Kabelverirrungen werden vom Gitarristen per Schnellschuh in Reihe geschoben, während der Sänger sich mit gewohnt enzyklopädischem Ehrgeiz an all die vererbten Auswahltexte des großen Dichters, skizziert auf einer so genannten „Setlist“, erinnert. Mit den „Feldmännern“ legen sie beide los, als gäbe es kein Morgen. Idyllisch geht es weiter und schon nimmt das Rennen seinen geschichtsschwangeren, sagen wir ruhig historischen Lauf. Unterbrochen von Beifallsstürmen, gerne gesehenen bis subito ausgetrunkenen Schnapsanlieferungen. Der Garten brennt, tost, manch einer kommt gar darin zu Fall. Kies ist ein rutschiges Ungemach unter den Füßen. Und Schnaps eine wegweisende Medizin dafür.

 

 

Wer kleine Pausen einlegt, gewinnt am Ende das Rennen, lautete eine alte Weisheit des Radfahrers, Schlagersängers und Pratajev-Freundes Tutukin. Die Doctors beherzigen das gerne. Und schon werden sie reich beschenkt. Die Berliner Fraktion um die Herren Eademakow und Winogradow ist mit 300 Russenbonbons dabei, unter denen sich bei näherer Betrachtung eine Flasche Uralprickel verbirgt. Doch damit nicht genug: „Haus aus Erde“, ein Nachlassbuch vom großen Folkfighter Woody Guthrie, ist für jeden Doctor auch noch im Gepäck. „Haus aus Erde“ – „Haus aus Stein“: Es gilt nunmehr Parallelforschung zu betreiben.
Wenige Augenblicke später sind die Doctors plötzlich Ehrenbürger ihres Prager Lieblingsstadtteiles Žižkov, tragen stolze Plaketten und Fotos von Ratten mit sich, die aus Schnapsgläsern naschen. Ja, ist denn heute schon Weihnachten?

 

 

Rasch geht’s weiter. Schwäbische Nachbarn haben sich mittlerweile nicht nur in Berlin-Mitte niedergelassen. Und schwäbische Nachbarn sind schnell mit den Schutzmännern im Bunde, wenn die Nachtruhe ab 22 Uhr gestört wird. Vielleicht sind einige von ihnen auch gar nicht aus Schwaben, sondern stammen gebürtig aus dem Umland. Doch sofern auch bei ihnen die Hose bereits am frühen Abend kalt am Bett hängt, sollten sie folgendes Gedankenspiel bedenken: Wer in die Großstadt zieht und meint damit ein ruhiges Stückchen Friedhof ohne Fernverkehr und fröhlicher Gemengelage ergattert zu haben, sollte möglichst schnell ins Altersheim verbracht werden. Zu einer bösen, dicken, pickeligen, nach Windelschweiß riechenden Nachtschwester mit vernarbtem Botoxgesicht und Hartz4-Frisur, die Schlag 22 Uhr alle Fernsehstecker zieht und staubige, mottenzerfressene Vorhänge vor löchrige Fliegengitter zurrt. Andererseits könnten die Protagonisten der Sparte „Ruhe und Ordnung“ allesamt zu den Russian Doctors kommen, zur Heilung. Damm bliebe ihnen dieses Schicksal erspart und sie dürften unbeschwert überall wohnen bleiben.

 

 

Aber nun, die Russian Doctors spielen weiter, entdecken einen „Rotarmisten“ im Keller und schwitzen jedes vorab konsumierte Kaltgetränk in Windeseile wieder aus. Bis zur ersten, bis zur mittleren, bis zur letzten Schnapsbar geht das so. Stets bereit, beim nächsten Zugabewünschdirwas in rasantes Entzücken zu verfallen. Dann schlägt jedoch die Stunde; ein letztes Mal schweifen die Blicke der Doctors ins feiernde Publikum. Dorthinein geht’s, an Gartentischen warten russische Getränke. Verbrüdert wird sich, was das Zeug hält und später, im Inneren des Waldfriedens, gibt’s Arbeiterkampflieder (Winogradow) und Gitarrenstunden (Dr. Pichelstein) und natürlich jede Menge voller Gläser obendrein.

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