Feste gefallen (307)


Gleich zu Anfang dieses erinnerungswürdigen Tourtagebucheintrages muss auf die Doppeldeutigkeit der Überschrift „Feste gefallen“ hingewiesen werden. Wir hoffen, dass es jenen, die sich in den mittelfrühen Morgenstunden Schotterflechten an Kopf, Knie und Kinn zuzogen, besser geht als je zuvor. Besonders in diese Wünsche einbezogen sei die Dame P. Wie gut, dass Doctor Pichelstein und Fürst Fedja zur Stelle waren, als jene Stelle im Zuge bekannter Schwerkraftgesetze nicht mehr verlassen werden konnte und sich die vielleicht etwas zu fatalistische Zufuhr von Sto Gramm-Bechern als hinterlistiges Irrwischzeugs erwies. Dieser Satz wurde extra lang gestreckt, denn der Abend war wirklich lang und dass er bis zur letzten Minute auch gelang, daran wird niemand zweifeln wollen, der am 20. September des Jahres 2014 alles stehen und liegen ließ, um beim Pratajev-Sommerfest dabei zu sein.

 

 

Nachmittags führt Gastgeber Nikolaj Plautski große Teile des Komitees auf den spätsommerlichen Weihnachtsmarkt. In einem Städtchen, kurz hinter Amerika gelegen, findet er tatsächlich, wenn auch nur für einen Tag, statt. Das Altenburger Land hält sonderliches bereit. Nichts desto Trotz bestellt sich jeder der Pratajevianer ein Tässchen Glühwein in der Sonne. Dazu gibt's eine Thüringer Roster vom Grill. Die Bauchtanzgruppe, geschmückt und bestückt wie der Heilig-Abend himself (Gänsebraten, Lametta und all das, von wegen Kartoffelbrei und Würstchen. Frevel!) lässt die Doctoren bass vor Staunen beinahe Senf aufs Hemdrevers kleckern. Ein fotogener Stopp am Bahnhof von Amerika folgt, im Örtchen weiter lockt der Süßhunger. Die Kellnerin der Kaffee-Bar fürchtet sich ein wenig vor den schwarz gewandeten Gestalten, die mit gierigen Fingern auf Tortenauslagen deuten. „Nicht, dass ich heute noch überfallen werde“, gibt sie zu bedenken. Fürst Fedjas beruhigender Sonor beschwichtigt sie während um die Sahnestund‘ herum dem Altersdurchschnitt im Café nahezu jugendliche Statistik anheimfällt. Dann auf und zurück gen Heimatverein Göpfersdorf. Die Bühne wurde bereits gerichtet, die Getränke stehen kalt, fleißiges Volk kümmerte sich derweil ums kulinarisch, russisch angehauchte Programm.

 

 

Das Who-is-Who der Pratajev-Gesellschaf, der Doctors-Freunde erscheint pünktlich zum Klassentreffen des großen Meisters. Aus Rostock, Chemnitz, Berlin, Pirna, dem Erzgebirge, aus Erfurt, Jena, Leipzig, Markkleeberg aus sonst wo her. Die Sektion Nürnberg erhält in diesem Jahr den Flüssigpreis für die längste Anreise. War der Ort des Festes, das schmucke Garbisdorf/Göpfersdorf, wegen einer gestrigen Schlammlawine nach tagelangem Regenfall noch nicht von überall erreichbar, heute scheint wieder alles im Lot zu sein. Und selbst der Satz „Hurra, das ganze Dorf ist da“ passt in die Dämmerung wie der Angler zum Fluss.

 

Fürst Fedjas Stellenbeschreibung ist eine einzige Offensive an der Schnapsbar des Quellenhofes. Schon eilt er hierhin und dorthin und wird nicht nur deshalb im zweiten Programmteil mit dem Pokal „Held der Arbeit“ ausgezeichnet. Pünktlich um 20 Uhr heißt es: Lasst die Spiele beginnen! Die „Running Order“ wurde dicht bestückt wie ein Sonnenblumenfeld im Mai. Zwischen doctoresken Musikbeiträgen, mittenmang der Satz des Moderatoren-Sängers-Vorlesers-Quiz-Masters Dr. Makarios: „Wie ist denn noch gleich der Anfangstext zur Schönen aus der Stadt“, mischen sich Videoeinspieler und natürlich bietet jedes Pratajev-Fest mindestens eine Weltpremiere feil. Vor wenigen Tagen erschien „Medizin und Fetisch“ im Verlag Andreas Reiffer. Das jüngste Werk der Forschung in der Pratajev-Bibliothek. Daraus wird gelesen, geschmunzelt, darüber wird schwer nachgedacht. Schließlich war bisher nur den wenigsten klar, dass aus dem Wort „fettig“ einst der heutzutage so ehrumwobene „Fetisch“ entstand. Mit letzten, beantworteten Pratajev-Quizfragen noch im Ohr geht’s an die Schnapsbar zum Pausenumtrunk.

 

 

Die Doctoren blasen zur nächsten Runde, am Merchstand verlieren die dicken Edding-Stifte langsam an Farbe. Natürlich! Das Festplakat des Tages sollte unbedingt andenklich beschriftet mit nach Hause genommen werden. Nikolaj Plautski eröffnet derweil die Versteigerung. Großes, staunendes Raunen durchzieht den vollbesetzten Saal. Zwei Pratajev-Malwerke „Die Trinkerin“ und „Drei Flaschen“ gelangen nach zähem Ringen meistbietend unter den Bermasik-Hammer. Niemand wagt sich hingegen an ein sogar vergoldetes Holzgebiss aus der Praxis Hermann Schädler heran. Wer allerdings jetzt „schade“ denkt, hat das Original nicht gesehen. Für den häuslichen Fensterhinstell-Gebrauch zur Straße hin eignet es sich nämlich eher weniger.

 

 

Erneut fegen die Doctoren mit Murmansker Liedern übers Parkett, reichlich gefüttert vom Schnapse. So dass die anschließende Pokalübergabe zum feurigen Fast-Abschluss des Festes kulminiert. Ehrenmitglied „Der Tierarzt“ erhält den „Wanderer“, die höchste Pokalisierung der Gesellschaft für das Jahr 2014. Fürst Fedjas „Held der Arbeit“ glänzt übers ganze Gesicht. Dem Wunschkonzert folgen Zugaben, draußen lodert in der Schale das Feuer. Doctor Pichelstein wird von der Dame P. auf die Russen-Disko-Tobefläche gebeten und legt einen knallharten Trance-Stepp aufs Parkett. Vier links, sieben rechts, 20 cm Drehung, schon sucht sich das Gleichgewicht ein anderes Organ. Man hat ja bekanntlich mehrere davon. So nimmt die Nacht Besitz von Land und Leuten. Winogradows Weisen am Feuer laden das Gefolge ein. Genesungsstrategien werden erst in wenigen Stunden beim Frühstück erörtert werden müssen.

 

Endgültig abschließend sei gesagt: Dank allen, Danke. Das war der bisher bestbesuchteste, vollste, tollste Pratajev-Gedenkabend mit allerlei unverhofften und erhofften Sensationen in seiner nun schon längeren Geschichte. Danke auch dem Heimatverein Göpfersdorf für die Einmietung in den wunderbaren Quellenhof, den Braumeistern des Bieres mit dem Leitermann auf dem Etikett sei ebenfalls ein Röslein an die Jacke geheftet.

 

Der verkohlte Veggieburger (306)


Das jährliche Ehemaligentreffen einer generationsübergreifenden DDR-Schulform, von der Doctor Pichelstein wenig versteht, weht Pratajevs Erben in die Moritzburg zu Halle. Der Sommer hat sich erledigt, Herbst steht in Büschen und Tomaten. Nass ist’s, die Tankstellen-Bockwurst wartet auf einen verdienten Verdauungsschnaps. Bis dieser feilgeboten wird, dauert es noch eine Weile. Zunächst heißt es: Akklimatisieren, dem Soundcheck der Kollegen von Lizard Pool lauschen, Prominenz aus den Reihen der Pratajev-Gesellschaft begrüßen. Winogradow überreicht Doctor Pichelstein eine Basecap mit dem Logo der legendären Eishockey-WM 2010 (Deutschland stand endlich mal wieder im Viertelfinale), der schnellste Gitarrist der Welt strahlt über beide Backen. Rasch zur Bratwurst, damit sie rund und füllig werden.

 

Fast wäre es passiert: In der Hoffnung auf ein flottes Steak zeigt Doctor Makarios auf ein rätselhaft aussehendes Stück Ding am Grillrand. Der diensttuende Mann mit der Zange und den Senfflecken am Revers zeigt sich verblüfft. Will einer der wohlgenährten, überaus gesund dreinschauenden Herren Musiker tatsächlich einen Veggieburger? Als der furchtbare Irrtum ans Licht gerät, das Enigma gelöst ist, schütteln sich alle vor Lachen. Also Wurst. Vom Schwein. Und das muss sein. Wurst macht Durst.

 

Die Schnapsbar auf der Konzertebene hält schwarze Gerstensäfte vor. Soll ein Schnaps die Problemzonen des Körpers befrieden (beim hungrigen Mann sind damit gewisse Innereien gemeint), muss man eine Etage höher wandern. Zu den Rauchern von Halle, nicht von Bolwerkow. Es folgt eine bewegende Eröffnungsrede, mit allerlei Information gestückt. Und wie jede bewegende Eröffnungsrede, die mit allerlei Information gestückt ist, beginnt auch diese mit einer furchtbaren Mikrofonrückkopplung. So ist es, es wird es nie anders sein. Das Leben ist ja derart unbeständig geworden, auf nichts ist mehr verlass, klagen selbst die Psychotherapeuten der Patienten, die sich mit genau dieser Gemengelage an eben die vom Leben hoffnungslos überreizten Psychotherapeuten wenden. Wie froh ist man deshalb, vertraute Dinge erleben zu dürfen. Lizard Pool legt los. Größer Sound, sehr schön. Mit von Sinneslust geschwollenen Adern.

 

Danach sind die mittlerweile schnapsgestählten Doctors dran. Dem Line-Check folgt der erste Konzertblock. Doctor Pichelstein legt los, als habe er gerade am Grill rasch noch eine dicke Jagdwurst verzehrt. Mit einer friedfertigen Erzählmelange aus russischem Wirtshaus und ukrainischer Datscha bewegt Doctor Makarios derweil die Menschen. Das Rauchen in der Ebene versteht sich von selbst. Die ersten Musikwünsche werden laut. „99 Luftballons“ sollen es sein. Pichelstein kann dieses Liedchen natürlich spielen; schließlich gehört’s zum Repertoire eines jeden Gitarrenlehrers, der er einst in Münster mal war.

 

Makarios indes stoppt diese musische Kleingärtnerei ganz schnell, weiter geht’s durchs wilde Tour-Distan, durchs Programm. Über die Tiere, die gefesselten Damen, die bückenden Herren. Der Turm singt mit, der Turm tanzt. Ein verheißungsvoller Ort, voll mit ehemaligen Schülern, schreitet geschlossen zur Genesungstherapie. Schlank und rank und öfter auch ein bisschen rund um den... ähm, Gürtel. Auf die Pause wird glatt verzichtet. Schon trällern und musizieren Pratajevs Erben und Solitäre in die Zugabehonorigkeiten hinein, weht draußen ein Wind überm leeren Grill. Doch nein. Was ist das? Ein kleiner Veggieburger, schwer verkohlt, das arme Ding, dampft tapfer vor sich hin. Kühe und Veganer aller Länder, vereinigt Euch, schreitet Seit‘ an Seit‘ dem Morgenrot entgegen. Seht auf diesen Veggieburger! Mit einer Kirsche obenauf sieht das Leben wieder lecker aus.

 

Dann ist es geschafft, die segensreiche Bühnenarbeit ist verrichtet. Manchem Gelehrten wird am Magazin der Doctors Pratajev lyrisch näher gebracht. Die Schnapsbar scheint im matten Licht, von allen Seiten rollen Gläser auf die Doctoren, auf Fürst Fedja zu. Mit letztem Kampf gelingt die Leerung. Pichelstein bemüht den Selbstversuch und beißt in den verkohlten Veggieburger hinein. Er überlebt nur knapp. Schon parkt das Tourauto an Halles Güterbahnhof. Und während direkt gegenüber vom Hotel Europa eine Busladung mittlerer Herren in unauffälliger Montur um Einlass im Puff begehrt, steht das Mitleid der Doctors den Damen Pate.

 

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