tour_tagebuch
Der Hut des Schrocke-Mögeleit (335)
Man kann als Pratajev-Gesellschaft nichts falsch machen. Statt eines neuerlichen Jahreskongresses wird 2015 eben die „Petroperbolsker Sammlung“ des großen Dichters, Malers und Filous in den Fokus einer Ausstellung gerückt. Ein würdiger Ort war schnell gefunden: die jüngst eröffnete Treppenhausgalerie des Clubs „Noch Besser Leben“ öffnete ihre Pforten gerne dafür und stellte das berüchtigte Konzertwohnzimmer samt Schnapsbar als Ort der inneren wie äußeren Einkehr bereit.

Dass Pratajev einigen Phasen seines Lebens sehr subtil anmutende Bilder zufügte, war im Kreis der „Haus aus Stein“-Leser sowie im Besuchervolk der letzten beiden Sommerfeste zu Garbisdorf gemeinhin bekannt. Doch dass er gar als Fruktizismus-Pionier oder als Vorreiter der Zahnpastamalerei in die Geschichte des Mittleren Urals einging, bisher weniger. Und so heißt es dann auch im zur Ausstellungseröffnung veröffentlichen Bildband „Der Maler Pratajev – Die Petroperbolsker Sammlung“ (Verlag Death Todes) richtungsweisend: „(…) Weniger bekannt ist sein Werk als Maler, obwohl seine Gemälde und Zeichnungen unter Sammlern sehr begehrt sind und gute Preise erzielen. Die Petroperbolsker Sammlung war die einzige, die schon kurz nach Pratajevs Tod auseinandergerissen und vor allem ins westliche Ausland verkauft wurde. Dem tschechischen Maler Josef Spindl jr. ist es zu verdanken, dass viele der verstreuten Werke Pratajevs wieder zusammengetragen werden konnten. Da Spindl an Lungenschizophrenie erkrankte und für die Behandlung Geld brauchte, verkaufte er die Sammlung an den Leipziger Galeristen Wigand Schrocke-Mögeleit. Dieser wiederum schenkte einen Großteil der Bilder der Pratajev-Gesellschaft e.V., so dass Pratajevs Werke nun seinen Fans und Freunden zugänglich sind (…)“

Gesagt getan. Punkt 17 Uhr trifft die teilweise noch vom Vorabend sehr gebeutelte Gesellschafts-Entourage (Eishockey-Spiel mit doppelter Overtime im Hause Pichelstein; Fürst Fedja gewann das Penalty-Schießen schließlich im Cafe Westen) zusammen. Um 18 Uhr soll die Ausstellung feierlich, stilecht eröffnet werden. Oder um 19 Uhr. Oder um 20 Uhr. Jedes vorabberichtende Medium hatte eigene Ideen. Aber das muss so sein. Schließlich begannen Ausstellungen zu Pratajevs Zeiten in russischen Kulturhäusern, vor allem im Rajon Rovtlovensk, regelmäßig mindestens dreimal am selben Tag hintereinander. Vermutlich, weil der Andrang auf die herumgereichten Schnapsvorräte aus der Schatulle der Galeristen sonst gar nicht anders zu bewältigen gewesen wäre. Heute gibt es Sekt für die zu allen Zeiten zahlreich erschienen Gäste und Petroperbolsker Schnaps. Ein Dank an die Schwarzbrennerei Gurt Kaktus an dieser Stelle, dessen Namenspatron sich außerdem in bilderlicher Gemengelage als Restaurator der gezeigten Künste einen Namen machte. Und, soviel muss auch verraten werden: die Bühnendekoration „Äpfel des Glücks“ stammt am heutigen Abend auch vom Herrn Kaktus. Da staunt sogar Verleger Wallgold II jun., zurzeit als Wohnwagenbewohner auf Ferien-Eishallendurchreise.

Mit dem Nachbau eines Wladimir Dolomitow-Hutes auf dem Schopfe führt Galerist Schrocke-Mögeleit, begleitet von der bezaubernden Bilderdetektivin Maggi Neubert, die Besucherströme durch die Ausstellungsebenen. Kein Auge, keine Kehle bleibt darunter trocken. Dolomitow, genau, ein Aquarell zeigt nur seinen Hut. Warum das so ist? Schrocke-Mögeleit kann alles erklären: „Ein phantastisches, fast schon surreales Reduktionsbild Pratajevs ist „Der einsame Trinker“. Dieser ist nur durch seinen Hut vertreten und selbst gar nicht zu sehen. Es soll sich hierbei um Wladimir Dolomitow handeln, einen Bergsteiger, der zu seinem Leidwesen nie einen Gipfel erreichte. Schlechtes Wetter zwang ihn, wie er sagte, immer wieder zum Umkehren. Nach zwanzig Jahren erfolglosen Bergsteigens mit immerhin 98 Fehlversuchen wurde er depressiv und verfiel dem Alkohol. Er bat Pratajev daher, ihn bitte nicht in „dem Zustand“ zu malen, was Pratajev tatsächlich respektierte. Aus Mitleid schenkte Pratajev Dolomitow das Gemälde. Dolomitow wiederum verkaufte das Bild direkt an Digitalow, um sich, wie er sagte, eine letzte Gipfelexpedition zu finanzieren. Man griff ihn jedoch 14 Tage später betrunken und völlig mittellos am Schwarzen Meer auf, als er versuchte, als blinder Passagier auf ein Frachtschiff zu gelangen. Das Bild gehörte zu den berühmtesten der Petroperbolsker Sammlung und wurde schon vielfach reproduziert. Aus diesem Bild leitet sich auch der Spruch: „Wenn Du so weiter säufst, bleibt von Dir nur noch ein Hut übrig“, ab. Und wie das Bild genau in die Sammlung gelangte, verrät keine geringere als die strahlend schwarz-rot gewandete Maggi Neubert.

Unterdessen bereitete Doctor Pichelstein die Livebühne vor. Ein Kraftakt, denn die angekündigten NBL-Herren Barmann und Techniker liegen noch im Samstags-Tee. „Unseren Barmann hab ich heute Morgen noch um 9 Uhr im Seltsam um die Ecke gesehen. Der kommt sicher gleich“, erklärt dazu der Chefwirt gegen acht. Und weil sich das Wohnzimmer bereits streng füllt, müssen die Gäste eben selbst ran. „Striche einfach auf den Zettel, Geld in die Kasse“, so die Parole, und alle sind sie ehrlich. Denn das währt ja bekanntlich am Längsten. Und so wird es voller und voller. Doctor Makarios greift zur Lesebrille, erklärt noch wundersame Dinge um die ausgestellte Pratajev-Kollektion, der Vortrag „Die Bedeutung des Kürzels π“, cd-vorgetragen durch den mittlerweile verstorbenen, rührigen Peter Glathe aus dem Jahr 2000, folgt und dann ist Doctors-Time.

Eigentlich soll es nur ein kurzes, na vermutlich einstündiges Konzert der Herren Makarios und Pichelstein werden. Dass dieser mutige Plan wortwörtlich nach hinten losgeht, wird nach den ersten gespielten Roh-Diamanten recht rasch deutlich. Wieder wird ein Pratajev-Rekord gebrochen: „Das längste Wunschkonzert der Historie“ findet statt und nimmt seinen Lauf. Während vor der Bühne gesungen, gehüpft, getrunken, viel getrunken, noch mehr getrunken und wieder gesungen, gehüpft, getanzt wird. Doch keine Sorge, die vorm Auftritt dem Pratajev-Museum i.A. (im Aufbau) gestiftete, nicht nur originalgetreue, sondern originale (!) und nochmals original befüllte Pratajev-Arzttasche (ein erhebliches Danke dem Politkommissar) musste nicht versorgend geöffnet werden. Und schließlich endet der Abend genauso, wie es in Pratajevs Gefolge um diese späte Stunde an der Tagesordnung war. Man liegt sich in den Armen, trinkt mit letzter Kraft und murmelt glücklich: Der Abend ist sowas von gelungen.
PS: Die Ausstellung im NBL hängt noch bis Dezember dieses Jahres. Statt eines Ohrtexters würde Ihnen die Pratajev-Gesellschaft den Erwerb des genannten Ausstellungsbuches empfehlen.
Deo, wir fahren nach Leutzsch (334)
Ist das gemein. Die Sonne strahlt gelb, dick und zufrieden wie ein betrunkener Chinese am südseeblauen Himmel. Nur warm wird einem drunter nicht. Die Russenpeitsche hat weite Teile der bunten Republik unter ihrer Knute und die Doctors frieren beim Einladen des Equipments sehr. Gleich danach geht’s zur Bockwurst an die Total zu Studier- und Probierzwecken. Studiert werden die typischen Tankstellenkunden einer größeren Stadt (das sind keineswegs die langweiligen Tanker, sondern mehr so Menschen mit vom Schnaps demoliertem Gesicht). Probiert werden, na klar, Bockwürste mit goldigem Senf. Kein Tropfen davon landet in den schwarzen Textilien. So ein Glück. Für die nächsten zwei Stunden gilt es erneut, Sächsischunterricht zu nehmen (Pichelstein) und Frank „The Tank“ im Angesicht schrecklich fahruntüchtiger Autobahngesellen am Steuer zu beruhigen (Makarios). Denn wie heißt es so schön in irgendeinem Wiglaf Droste-Buch? „Geduld ist eine Rüstung, die nicht jedem passt“. Was mit der Rüstung indes geschieht, wenn sie platzt, wird dortselbst nicht weiter verraten. „Der wartet wohl auf ein besonders schönes Grün“, hört man hingegen den Driver of the pack an einer Ampel fluchen. So brausen sie dahin, nach Berlin-Karow, Pankgrafen- und Streckfußstraße wurden keck ins Navigationsgerät getippt.
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage? Die Navidame sagt: "Sein!" Und spricht es aus: „An der nächsten Kreuzung links abbiegen“. Makarios ruft entrüstet: „Nichtsein!“ Geradeaus geht es weiter. Einige Meter zumindest. Denn die Bornholmer Brücke ist bereits seit Juli für zwei Jahre gesperrt. Aus dem Navigerät ist ein strenges Räuspern zu vernehmen; Fürst Fedja legt einen halben Spin-o-Rama aufs Parkett und schon ist wieder Autobahnzeit. Berliner Autobahnzeit wohlgemerkt. Im Dunkeln, in klirrender Kälte wird der Ort des heutigen Konzertgeschehens, die Kleine Tanztee-Residenz, erreicht.

Privat geht’s heute her. Hoch her. Doch das wissen die Doctors noch nicht. Viktoria und Göttergatte bitten zum Stelldichein. Der Grund sind zwei dicht aufeinanderfolgende, runde Geburtsstage im unteren bis mittleren Lebensquartal. Und da die recht russisch-rustikal klingende Vorband sich noch im Soundcheck befindet, heißt es erst mal: Schnapsbar. Rauchen gehen. Schnapsbar. Oh! Das Buffet ist eröffnet! Teller füllen und was es alles gibt und noch mal: Teller füllen. Sehr lecker. Die Meeres- und Flussfreunde im Doctors-Tross loben an dieser Stelle besonders den fischgeräucherten Teil der kulinarischen Prozedur. Petri Heil, Lob und Dank nach Klossa an den lieben Angler in der Dämmerung Marcus dafür.
Die ersten Showeinlagen, getreu des zu feiernden Anlasses, folgen und siehe da: Die Pratajev-Sektion Gaschwitz taucht plötzlich auf. Damit hatte ja nun wirklich niemand gerechnet. Schön, dass die Welt so klein ist. Und weil die Welt so klein ist, sind es manche Schnapsgläser auch. Hinunter mit der klebrigen Masse darin. Der 60. Geburtstag ist noch fern und wird erst am 01.07.2017 (natürlich mit den Doctors) begangen.
Commercial Break: Buchen Sie die Russian Doctors! Verwöhnen Sie Ihr Publikum. Man wird sich noch Jahre später von diesem einen Abend nicht erholt haben, nein, falsch: Man wird sich noch Jahre später von diesem einen Abend erzählen.

Die Bühne muss komplett umgebaut werden, was gar nicht so einfach ist, wenn man vorher fest in die Schnapsbar biss. Doch es gelingt und nach einem fulminanten Soundcheck, der direkt ins Konzert übergeht, ist Showtime. Wer jetzt noch sitzt, ist selber schuld. Denn wie wir aus jedem Eishockeystadion der Oberliga wissen: Sitzen ist für’n Arsch. Es wird getanzt, geschunkelt, sicherlich auch gemunkelt. Ein Tablett voller Gläser verliert den Kampf gegen die Schwerkraft und dennoch kommt es Pichelstein so vor, als wäre diese immer weniger vorhanden. Man beachte diesbezüglich nur das kleine Stillleben in seiner Nähe, das Bild am Ende des Textes. Makarios führt galant bis zur letzten Schunkelschnapsbar durchs Programm, reißt hier aus und dort aus, Pichelstein rast mit den Fingern übers Saitenmetall, glücklich schwitzen sich alle Richtung Zugabeblock. Zwischendurch gibt Makarios den Howie und viel später, als die Nacht in den Morgen im herrlichen Holzhaus um die Ecke übergeht, wird ein holländischer Gast immer noch sagen: Dieses eine Lied auf Niederländisch, das war schon wirklich gut.
Die Kleine Residenz wird zur Sauna und die kleine Kellnerin hat aller Hand zu tun. Dafür wollen wir sie immer loben. Tja, wenn die Doctors kommen, ist der Tanztee vorbei. Dann gibt es Schnapstee mit Makarios und Pichelstein statt Sektchen mit Dörte und Uwe von der Mobildisco No Limit. Ganz lieben Dank an Viktoria und Gefolge. Es war uns ein Riesenfest. Und warum die Überschrift dieses Tourbuchs "Deo, wir fahren nach Leutzsch" heißt, ist nicht mehr nachvollziehbar.
