• home
  • bio_logie
  • nächste auf_tritte
  • tour_tagebuch
  • disko_grafie
  • biblio_grafie
  • prawda
  • impressum
  •  
  • >>pratajev_bibliothek>>
  • >>pratajev_gesellschaft>>
  • >>videos_youtube>>
  • >>groß_markt>>

tour_tagebuch

27. März 2015, Torgau/Kulturbastion

Fett, einäugig, revolutionär (318)


Streng blickt der steinerne Nischel, als der Pratajev-Tross Chemnitz verlässt. Die Nacht war kurz im Hotel Mercure; den Äußerungen des Fürsten Fedja ist zu entnehmen, dass Doctor Pichelstein zu früher Lerchenstund‘ ein Liedchen summte oder sang. Jedenfalls so erhaben und ausdauernd, dass die Fürst Fedja-Nacht in Zimmer 2001 noch knapper verlief. Und im Fernsehen gab es nicht mal Schieß-Filme. Ausgiebig gefrühstückt wurde dann bei Danny samt Hund im Flowerpower, darunter: die feierliche Übergabezeremonie eines Siebdruckbildnisses der „Trinkerin“ aus Pratajevs Malerphase.

 

Fast ist es April und genauso benimmt sich das Wetter. Von Sonne bis Hagel ist dabei. Ein Ausflug ins tiefe Mittelsachsen steht an. Ziel ist des Doctor Makarios‘ Kinderstubenheimstatt Grimma. Es geht dorthin, wo die Flut öfter mal böse zu den Menschen ist, wo Mühlsteine und Wasserräder einst die Vorratskammern mit Sonne und Brot befüllten, an Rochlitz vorbei. Dorthin also, wo einst die heute völlig zu Unrecht vergessenen Wettiner herrschten, wo Markgraf Dedos Schlankheitskuren gründlich misslangen. „Fett, einäugig, revolutionär!“ rufen sich die Doctors im Auto, bei jeder Raucherpause, zu und der nach wie vor dem Spirit(us) entsagende Fürst Fedja nickt mit ruhmreicher Gestalt. Es geht ihm also wieder besser, doch nach wie vor gilt die Dreiviertel-Askese. Das fehlende Viertel beklagt: Hunger. Also wird eingekehrt. Ins „Gasthaus zur Wassermühle“ auf Bärlauchsuppen, Roulade, auf Knoblauchsteak, Tafelspitz und so weiter. Frau Spick-Schneider bedient zuvorkommend - wie einst die Mägde Dedos. Man möchte ihr vor Wonne… nein, möchte man nicht. Denn das gehört sich nicht. Spannend ist, wie eine hochbetagte Seniorin am Nebentisch mit nur drei sichtbaren Schneidezähnen in Windeseile ein Rumpsteak zerkaut und verdrückt. Große Kunst, großes Mittelsachsen.

 

Dann geht’s weiter über Stock, Stein und vor allem durch gewagt konzipierte Kurven. Hier, im Muldental, wird die Lebenserwartung noch in Fahrstunden gemessen. Vorbei rasen gedankenlose Freizeitraudis mit schadhaften Köpfen ohne Haare. Wer hat bloß diesen Trend gesetzt? Viele junge Männer, denen bereits in der sogenannten „Saftphase“ eines Lebens kreisrund die Haare ausfallen, entscheiden sich eines frühen Vormittages für eine Komplettrasur. Man sieht dann immer so schadhafte Stellen auf dem Kopf, möglicherweise vernarbte Areale, die so aussehen, als hätte eine Ex-Freundin mal mit dem nach oben offenen Sektglas darauf herum gedrückt. Oder zugeschlagen. Aber das wollen wir Ex-Freundinnen gar nicht zutrauen. Obwohl denen einiges zuzutrauen ist! Auch in Gegenden der 1. Vorstufe des Erzgebirges, wie Doctor Makarios quizrichtig bemerkt. Wahrlich, die Umgebung Torgaus gehört bereits zum Erzgebirge. Da gibt es nichts zu leugnen.

 

 

Nach Mahlzeiten soll man ruhen. Auf ins Torgauer Hotel Central. Noch zwei Stunden, bis der Tross an der Kulturbastion erwartet wird. Einer arbeitet (Doctor Pichelstein - muss ja nach jedem Konzert neue Gitarrensaiten aufziehen), einer schläft (Doctor Makarios), einer guckt endlich (!) Schieß-Filme (Doctor Förster). Dann nichts wie los, denn in der Bastion warten bereits die Brötchenteller, wartet ein nagelneuer Kühlschrank auf Entleerung. Es ist immer wieder unglaublich, wie gastfreundlich das KAP-Team ist, wie es jedem noch so anstrengendem Musikertag (schlafen, fahren, essen, schlafen) ein Schleifchen zu binden in der Lage ist. Selbst der Soundcheck fühlt sich so unbeschwert gemütlich an, als säße man in Pantoffeln vor einem Liebesfilm, in dem ein strammer Wettiner, dem noch keine Haare ausgefallen sind, raue Brautwerbung betreibt.

 

Dann erscheint Schnapsbrenner Gurt Kaktus im Backstage; es hagelt Geschenke. Zwei Flaschen Campa Orange für die namhaften Dedos, nein, Doctors dieser Welt (bzw. dieses Abends) stehen neben Pratajev-Zigarren, einem sicherlich mundgeblasenem TRD-Aschenbecher usw. im Mittelpunkt des erlauchten Geschehens. Rührender Dank folgt auf dem Fuße und dann schaut schon der Blumenkohl aus der Schnitzelbeilage paniert hervor. Danach einen Campa Orange, einen Brand aus Obst. Und danach und danach und danach geht das Konzert auch los.

 

 

Obschon der Bar-Bereich gewiss vollere Zeiten erlebte – in der 1. Vorstufenregion des Erzgebirges gibt es immer mal Ausfälle durch unaufschiebbare Familienangelegenheiten, durch drei Tropfen Regen zu viel und auch drei Tropfen Regen zu wenig - treiben die Angekommenen beide Doctors zu Höchstleistungen. Besessen von unwiderstehlicher Vergnügungssucht wird umso lauter applaudiert, setzt sich pratajevsches Brauchtum in Stimmen und Gitarrengewittern durch. Kurz wird nach einer Stunde diskutiert, ob eine Pause dem Russissmus-Reigen zuträglich wäre. Sie wird genehmigt. Und natürlich gibt es immer wieder Campa Orange, gelben Schnaps und auch weißen.

 

Mit lieblich verschatteten Blicken folgt drei Zigaretten später der nächste Konzertblock. Getrieben vom Dunkel, vom Hell Pratajevs schlottern sich alle in die Zugaben hinein und zum Schluss bleibt auf der Bühne nur noch Doctor Pichelstein übrig. Längst ist Doctor Makarios hastig über die Showtreppe entschwunden. Doch er kommt wieder, zu sanften Klängen aus dem Erlenholz. Er kriecht herein in die Hütte. Auf allen Vieren. Das hat es nicht mal in fast 30 Jahren Die Art gegeben. Dann wird final auf der Showtreppe gesessen. Für ein letztes Lied, so sanft, so zart, mit sicherem Blick aus klaren Augen. Willkommen zuhause, Pratajev.

 

25. März 2015, Chemnitz/Flowerpower

Russissmus ist ein schönes Wort (317)


Ein bisschen trübe ist die Stimmung im Tourauto, was nicht am gleichgesinnten Wettergott liegt. Schließlich geht so ein Flugzeugabsturz mit 150 Toten einem doch sehr nahe. Nahe gehen einem auch folgende Sujets: Französische Alpen = beliebte Flugroute der Doctoren gen Portugalien. Wie in den Troll-Medien über die Tragödie berichtet wird = an welcher Stelle eines drohnenhaften Journalistenlebens setzt eigentlich der Verstand aus? Gleich nach dem Förderschuldiplom? Das Dumme ist nämlich: Seit es die sogenannten sozialen Medien gibt, fühlen sich all die anderen Förderschüler auch berufen, Sponti-Headlines zu produzieren und/oder alles zu kommentieren, was ihnen in die Quere, sprich: auf ihr internetfähiges Ding mit Telefonnebenfunktion, gelangt. Ach, was war das früher doch schön, als empörte Vertriebene, Rentner und Alleinstehende noch Leserbriefe ersannen, damit das ganze Wochenende zubrachten und am Montagmorgen eine besonders hässliche Briefmarke für den Postversand zur Lokalzeitung aussuchten. Wir wollen zwar keine Umkehr von der Aufklärung wieder hin zur Säkularisierung, doch tausenden von Mitmenschen, die eine Primitivform abgespaltenen Hirnmaterials innerhalb ihrer Tippfinger besser ausschließlich ins Nagelstudio tragen sollten, sei gesagt: Dafür kommt Ihr noch in die Hölle, ins Fegefeuer. Ganz sicher. Fragt die Verschwörungstheoretiker. Die holen schon mal Holz. So, das musste mal gesagt werden. Auf das passende Icon hinter diesem Satz wird bewusst verzichtet.

 

Fürst Fedja geht es heute gar nicht gut. Dienstag auf Mittwoch gab es ein langes Familienfest. Kleine Ursache, große Wirkung. Doctor Makarios auf dem Sozius spricht beruhigend auf den in sich ruhenden, sich selbst kasteienden Fahrer ein: „Wir sind ja gleich da, dann bekommst du einen Tee.“ Also steht um 18 Uhr 30 bereits fest, dass der letztjährige Bandrekord im Getränkeverzehr an der Bar des Flowerpower Chemnitz ever sich nicht toppen lässt. Vermutlich belegt die Doctors-Crew auf ihrer „Machen Dich Messer Du Möhre-Tour 2015“ einen ganz schlechten hinteren Rang. Selbst Margot Käßmann, sofern eine Buchlesung zum Thema „Säkularisierungswünsche in den sozialen Medien“ diesjährig noch ansteht, stünde im Jahresranking am Ende weit vor den Doctors.

 

Chef Danny weht wie ein frischer Wind um die Ecke, schon ist die Bühne bestückt, Fedja bekommt seinen asketischen Pfefferminztee, Makarios und Pichelstein schnabulieren Kaltgetränke. Zu Viert werden Riesenschnitzel verdrückt und selbst danach: wohlfeile Apelle der Kollegen an den Fürsten, doch zumindest nach dem leckeren Essen einen gesunden Kräuterbitter zu prüfen, verpuffen. „The Tank“ bleibt eisern. Selbst eine stundenlange TV-Sondersendung zum Thema „Gesunde Kräuter aus dem Wald, in Maßen genossen, helfen in allen nur erdenklichen Lebenslagen“ mit Maybrit Illner oder Anne Will oder wie die alle heißen, hätte nichts genutzt. Selbst wenn Lichtgestalten wie Karl Moik oder Margot Käßmann sich darin in irgendeiner Weise pro-Kräuter geäußert hätten, das Ergebnis wäre weiterhin Tee geblieben. Karl Moik wurde in diesem Zusammenhang übrigens nur genannt, weil er kürzlich ehrenhaft verstorben ist. Wir haben schon einmal in einem vergangenen Tourbericht nicht gerade heroisch über eine verstorbene Vertreterin der Volksmusikgruppe Mensch - es muss sich um eine Jodelkönigin gehandelt haben - gesprochen und dafür harsch kommentierte Kritik in den sozialen Medien einstecken müssen. Das wollen wir diesmal nicht riskieren und könnten jetzt sogar in einen Konjunktiv-Reigen zu Ehren Karl Moiks verfallen. Mit Indikativen setzt man sich bekanntlich viel zu schnell in die Nesseln und wir wollen ja alle lieber im Bärlauch sitzen. Nicht in den Maiglöckchen! Und erst recht wollen wir nicht ins Fegefeuer.

 

Doch genug der weiterhin (was ist denn heute los?) langen Vorrede. Eigentlicher Anlass des Tages ist das Konzert. Der Techniker, die Barleute, die Doctoren natürlich - alle warten auf Gäste. Vereinzelt wurden erste Tische bereits fröhlich okkupiert, doch nun geht es auf 21 Uhr zu. In einer halben Stunde, soll, so die Planwirtschaft, das Intro erklingen. Es wird 21 Uhr 30. Und noch immer ist der Laden fast leer. Chemnitz scheint in Trauer zu sein. Möglicherweise wurden Ausgehverboten verhängt, von Ehepartnern, von Chefs (ist ja schließlich DIE Arbeiterstadt Sachsens!), von Hunden oder Katzen. Liegt es am langen, ausführlichen Vorbericht des Abends in der Freien Presse? Das Timbre in Doctor Makarios Stimme spielt ins Düstere. Kaum Seerosen auf dem Teich vor der Bühne, um mal ein Beispiel aus der Natur zu bringen.

 

 

Dann, mit einem Male, man glaubt es kaum, findet eine rasante Publikumsvermehrung statt. Die Doctoren haben bereits erste Laute von sich gegeben. Die „Feldmänner“ stehen am Rand, wie ein vollbesetzter Seerosenteich sieht die Szene beim „Idyll“ mittlerweile vor der Bühne aus. Ein einziges Drängeln und Schieben, Johlen, Trinken und Klatschen. „Vielleicht werden in Chemnitz ja wieder Leute abgeholt. Zum Konzert. Mit dem Bus“ - derlei Gedanken strömen Pichelstein durch den Kopf. Schon wird der erste Kräuterschnaps gereicht. Doctor Makarios verschluckt sich gleich mal fürchterlich (und hatte vermutlich Ersatzstoff erwartet). Der Russissmus ist im vollen Gange. Schönes Wort: Russissmus. Bevor so ein Wort übel beleumundet wird, wollen wir es an genau dieser Stelle retten! Russissmus soll bedeuten: So ist es in Russland, so war es in Russland, am tollsten war es dort einst im Mittleren Ural, als Pratajev noch lebte. Besagter Issmus ist aber leider keine Erfindung der Russian Doctors in ihrem Tourtagebuch. „Google“ weist bereits zwei Einträge (Stand: 29.03.2015) in zwei verschiedenen Foren sozialer Netzwerke auf. Künftig werden es drei sein. Tendenz: steigend.

 

 

In der Pause machen die Doctors eine erfreuliche Bekanntschaft: Die Inhaberin des Nudelparadieses Chemnitz begeistert sich in ihrer Rede sehr am Lied mit den 1000 Nudeln, die ein verzweifeltes Pratajevherz durchbohrten. Friede, Freude, Nudeln. Was braucht man mehr? Rasch ein paar Kaltgetränke, noch ein Wasser für „The Tank“. „Pocket Rocket“ und Makarios stehen wieder auf der Bühne. Weiter geht’s.

 

Wie auch immer es dazu kam – die Rekordwerte an der Gitarre fallen heute zu großen Teilen aus. Erstmals in der Doctors-Geschichte gibt es den „Biber“ als Ballade, fällt die Olympiasiegmedaille in der „Harten Wirtin“ einer seichten, zarten Akkordschwemme zum Opfer. Doch letztlich ist Pichelstein natürlich nicht zu halten. Die Doctors drücken auf die Tube, das Flowerpower Chemnitz tobt, die Schnapsbar wird bereits mit Walzerklängen warm umspült. Der Wunschblock in den Zugaben lässt den Seerosenteich endgültig überlaufen; Pichelstein ist nicht von der Bühne wegzubekommen. Makarios trat längst die Flucht Richtung Merchecke an und muss doch noch einmal zurückkommen, sitzt am Bühnenrand auf ein letztes „Schnaps und Weiber das ist fein, draußen heult der Wolf vor Kälte und manchmal quiekt auch ein Schwein….“ Sagenhafter Abend! So geht das mit der sozialen Vernetzung. Soziale Reize live und in Farbe sind die stärksten Reize. Und die finden nun einmal in der Realität statt, im wahren Leben. Zum Beispiel im Flowerpower Chemnitz.

 

 

 

  1. 21. März 2015, Wittenberg/Irish Harp Pub
  2. 28. Februar 2015, Leipzig/Privat im Telegraph
  3. 27. Februar 2015, Leipzig/Café Westen
  4. 21. Februar 2015, Leipzig/Privat im Bandhaus

Unterkategorien

  • 84
  • 85
  • 86
  • 87
  • 88
  • 89
  • 90
  • 91
  • 92
  • 93
impressum + Kontakt